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„Unser größter Feind ist die Gleichgültigkeit“

Joachim Rudolph ist ein Hansdampf in allen Gassen. Am Vortag noch in Paderborn, sitzt er am Mittwoch scheinbar gelassen im St. Wenzeslaus-Stift in Jauernick-Buschbach. Wir wollen mit dem 60-Jährigen über 20 Jahre Deutsche Einheit reden.

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Joachim Rudolph ist ein Hansdampf in allen Gassen. Am Vortag noch in Paderborn, sitzt er am Mittwoch scheinbar gelassen im St. Wenzeslaus-Stift in Jauernick-Buschbach. Wir wollen mit dem 60-Jährigen über 20 Jahre Deutsche Einheit reden. In Leipzig geboren und aufgewachsen, studierte er Theologie und Philosophie, war Chef zweier Altenheime in Görlitz und eine der prägenden Figuren der Wende in der Stadt.

Herr Rudolph, müssen Sie sich noch manchmal kneifen, ob das alles wirklich ist?

Ja, der Unterschied zur DDR-Zeit ist so enorm: Görlitz 1989, eine Stadt grau in grau mit wenig Optimismus. Menschen, die um ihre Zukunft bangten. Ich denke an die vielen Ausreisenden, die hier keine Chance mehr sahen für sich. Und meine persönliche Situation: Ich durfte beispielsweise nicht in die Tschechische Republik fahren.

Sie hatten einen Stempel im Pass, der eine Einreise nach Tschechien verhinderte.

Richtig, so war die DDR noch enger geworden für mich. Weil meine Großmutter aber im Westen lebte, bekam ich Sonderreisen genehmigt. Kurios dabei: Ich durfte nicht in den Ostblock, aber in den Westen. An der bedrückenden Lage hat das aber nichts geändert. Ich glaubte daran, dass Reformen nötig sind.

Für Sie war die deutsche Einheit ein Ziel. Der 3. Oktober muss doch für Sie dann ein Glückstag sein?

Ja, da gibt es die kleine Anekdote, dass wir am 3. Oktober 1990 eine Flasche Sekt geöffnet haben, die wir eigentlich für große künftige Familienfeiern zurückgelegt hatten. Dieser Wunsch nach der deutschen Einheit entstand aus den Kontakten in den sogenannten Westen. Mir war bewusst, dass verwandtschaftliche Beziehungen weniger werden. Daher war es um so wichtiger, mit Menschen zusammenzukommen, die uns nicht kennen, aber kennenlernen wollen und bereit sind, auch über Mauern hinweg Brücken zu bauen. Dafür haben wir fantasievoll Wege gesucht.

Wie sahen die aus?

Wir trafen uns beispielsweise in Ländern des Ostblocks oder zur Leipziger Messe. Und die so genannten Verwandtenbesuche im Westen gehörten dazu. Viele auf diese Weise entstandenen Freundschaften sind bis heute geblieben.

Sie waren 1990 einer der zwei Kandidaten für den Görlitzer OB-Posten nach der ersten freien Kommunalwahl. Sie unterlagen damals Matthias Lechner von der CDU. Trauern Sie dieser Chance nach?

Ich habe damals zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Bürgerbewegung die Weichen für die neue Zeit gestellt hatte, aber noch nicht die genügende politische und finanzielle Schlagkraft besaß. Natürlich gab es auch Gespräche mit der CDU, aber ich wollte das Neue Forum nicht verraten, das ich ja in Görlitz mitgegründet hatte. Ich habe die Niederlage hingenommen, aber nicht das Handtuch geworfen. Für mich war entscheidend, dass es genügend Aufgaben gab, an der neuen Zeit mitzugestalten. Deswegen war ich von Anfang an politisch aktiv.

Sie saßen zehn Jahre lang im Stadtrat, waren Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses, arbeiteten im Bau- und Wirtschaftsausschuss mit.

Mir kam es nicht auf Parteipolitik an, sondern ich wollte Görlitz fördern und dafür Kräfte bündeln. Deswegen war es eine der schönsten Aufgaben in meiner Stadtratstätigkeit, Vorsitzender des Ältestenrates zu sein, denn in diesem Gremium, getragen vom Vertrauen der Mitglieder, mühten wir uns um ein konstruktives und gutes Miteinander der Parteien.

Wenig später verließen Sie auch die beiden evangelischen Altenheime nach 22 Jahren. War das nicht ein schwieriger Abschied?

Jein. Ich bin dankbar, dass ich dort 22 Jahre sein durfte. Die Einrichtungen waren beliebt und bekannt. Wir – meine Frau, die Mitarbeiter und ich – waren bemüht eine Atmosphäre zu schaffen, die nach draußen abstrahlt und Leute anzieht. Zugleich waren diese Häuser auch Burgen auf dem Weg zur Einheit. Wir konnten uns dort treffen. So haben wir beispielsweise auf dem Fußboden des großen Saals im Wichernhaus die ersten Spruchbänder auf Bettwäsche gemalt. Als neue Strukturen für diese Häuser gefunden wurden, gab es für mich das Angebot, das St. Wenzeslaus-Stift zu übernehmen. Das hat mich gereizt. Es war eine berufliche Herausforderung.

Die Görlitzer kennen Sie vor allem als Vorsitzenden des Aktionskreises. Warum ist Ihnen diese Tätigkeit so wichtig?

Hier kann ich mich gemeinsam mit anderen für Görlitz einsetzen: für die Förderung der Kultur und der Stadtentwicklung, für eine lebendige Bürgerschaft, für grenzübergreifende Kontakte. So machen wir unsere Stadt über ihre Grenzen hinaus bekannt und beliebt. Das ist Öffentlichkeitsarbeit, die Früchte trägt.

An welche erinnern Sie sich besonders gern?

Da gibt es sicher mehrere. Aber eine der spektakulärsten war unsere Demonstration für die Kulturhauptstadtbewerbung von Görlitz vor dem Landtag, wo das Ballett des Theaters und auch das Blasorchester aus Turow auftraten und der Aktionskreis der Motor des Projektes war. Dadurch konnten wir uns Gehör verschaffen, unabhängig davon, dass wir nicht Kulturhauptstadt geworden sind. Aber wir waren auch Sieger: Von Görlitz hat man geredet.

Sie ziehen Menschen an und strahlen Zuversicht aus. Woher kommt das?

Ich bin aufgewachsen in einer Atmosphäre vieler Begegnungen und Kontakte. In meinem Elternhaus wurden zu Messezeiten manchmal bis 40 Gäste in unserer Vier-Zimmer-Wohnung bewirtet. An lebhafte Diskussionen entsinne ich mich stets und die Versprechen, sich unbedingt wiedersehen zu wollen. Zugleich bekam ich eine klare politische Linie im Elternhaus vermittelt. Mein Vater war 1953 Sprecher eines großen Betriebes in Leipzig und hat sich dort für die Anliegen der Arbeiter eingesetzt. Daraufhin wurde er verhaftet, später wieder freigelassen. Auch seine kirchlichen Aktivitäten prägten mich, so war er stark in der Kolpingsfamilie engagiert und sorgte nach der Wende für das Zusammengehen der Kolpingsfamilien aus Ost und West.

Sie sind Vorsitzender des Aktionskreises, Sie sind bei den Maltesern aktiv, Sie sind Mitglied im Kuratorium der Altstadtstiftung und vieles mehr. Wie schafft man das? Ihr Tag hat doch auch nur 24 Stunden.

Das ist schon ein langer Tag. Meine Mitarbeiter sagen manchmal scherzhaft, wann schläft denn der. Es gibt für mich keinen Acht-Stunden-Tag.

Das wird Ihnen nie zu viel?

Manchmal ist es zu viel. Wenn nicht alles gelingt oder zäh läuft und man feststellen muss, es gibt nicht so viele Mitstreiter, wie man sich wünscht. Auch beim Aktionskreis: Wir sind stark in den Aktionen, aber wir gewinnen zu wenige Mitstreiter. Wenn man mit jungen Leuten spricht, helfen sie gern bei der einen oder anderen Aktion. Aber sie scheuen Bindungen.

Ihren 60. haben Sie als Fluthelfer der Malteser fast im August-Hochwasser gefeiert. Das gehört dann auch dazu.

Ja. Das alles liegt vielleicht ein bisschen in meinem Naturell, dass ich mich schnell auf neue Aufgaben und Themen einstellen kann. Das ist eine Gabe, die mir in die Wiege gegeben wurde und hängt vielleicht mit dem Temperament meiner Mutter zusammen, die aus Ungarn stammt.

Wie haben Sie die 20 Jahre des vereinten Deutschlands erlebt?

Das ist eine Entwicklung mit Kurven, aber eine, die nach vorn geht. Welche Kurven sehen Sie?

Beispielsweise unser Aushängeschild: das frühere Karstadt-Kaufhaus. Ich habe die Hoffnung, dass Stadt und aktive Bürger es schaffen, dass es wieder öffnet. Ein Dorn im Auge sind für mich auch noch die Brachen, die Schandflecke für Görlitz sind. Da bin ich froh, dass jetzt das Massa-Gelände neu gestaltet wird. Und die Stadthalle. Da sind meines Erachtens falsche Entscheidungen getroffen worden.

Welche meinen Sie?

Als ich noch Stadtrat war, gehörte ich zu jener Gruppe, die eine Verbindung von Stadthalle und Hotel Mercure und den Ausbau zu einem Kongresszentrum favorisierten. Das fand damals keine Mehrheit. Doch jetzt bin ich froh, dass die Stadt die Stadthalle sanieren will. Nun ist es unsere Aufgabe, als Bürger auch zu mahnen, dass die Fördermittel bereitgestellt werden und die Stadthalle als multifunktionales Zentrum wieder geöffnet wird. Nur so kann es ein Überleben geben für das schöne Haus. Denn das ist doch klar: Je länger solch ein Haus geschlossen ist, umso schlimmer der Verfall. Das wird auch das Karstadt-Haus treffen. Je zögerlicher unser Handeln ist, umso schwerer wird der Neuanfang. Wir müssen mit Aktionen darauf aufmerksam machen. Das ist das, was Bürger von unten tun können.

Viele aber sind gleichgültig, sagen, es lohnt sich alles nicht.

Unser größter Feind ist die Gleichgültigkeit. Der ist leider auch in Görlitz zu spüren. Und deshalb ist es einfach wichtig, mit bürgerschaftlichem Engagement immer wieder auf solche Brennpunkte aufmerksam zu machen.

Können die Bürger wirklich viel erreichen?

Nehmen Sie die Hochwasserflut. Es ist doch großartig, dass aus der Bürgerschaft heraus und unter Schirmherrschaft des Aktionskreises sich Bürger treffen, die ganz unkonventionell und schnell erste Hilfe leisten. Es ist enorm, was da an freier Zeit geopfert wird, um anderen zu helfen.

Bei der Bilanz der letzten 20 Jahre unterscheiden Sie kaum zwischen dem öffentlichen und dem privaten Joachim Rudolph.

Das Private vermischt sich sicher mit dem Öffentlichen. Das zu leisten ist nur möglich, weil meine Frau mich unterstützt und die Familie mir den Rücken frei hält. Aber es gibt auch den privaten Rudolph, der gern liest, Musik hört und ein Musical-Fan ist. Und er reist gern.

Sie schreiben im Buch über das Görlitzer Neue Forum, dass Sie noch Visionen für Görlitz haben. Welche sind das?

Ich wünsche mir viele junge Leute, die in unserer Stadt leben und arbeiten wollen. Ich wünsche mir eine lebendige Kulturlandschaft und weniger finanzielle Bremsen und bürokratische Hürden. Es hängt doch alles zusammen: Wenn es mir gelingt, junge Leute zu binden, weitere Industrie- und Handwerksstandorte zu entwickeln, dann muss die Stadt auch Angebote bereithalten, die erst eine Stadt anziehend macht: Kultur, die erfreut, Theater und Musik sowie offene Kirchen. Das alles brauchen wir einfach für ein stil- und wertvolles Leben. Und wir brauchen bewohnte und nicht nur bewohnbare Häuser! Ich wünsche mir mehr lebendige Orte und Plätze in der Stadt, wo mit viel Fantasie für Cafés und Restaurants gesorgt wird, auch für ein reicheres Angebot des Handels aus anderen Ländern und vor allem unserer Partnerstädte. Hier haben wir noch viel zu tun! Wir werden beschenkt durch andere Kulturen, nicht überfremdet. Brücken bauen und Begegnungen ermöglichen, das sind für mich keine Visionen oder Träume, sondern dafür setze ich mich ein und lebe gern in Görlitz.

Gespräch: Sebastian Beutler