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„Vergessen kann man das nie“

151 Familien verloren bei der Flut 2002 in Röderau-Süd ihr Heim. Heute vor zehn Jahren begann der Abriss der Siedlung.

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Von Jane Pabst

Freitag der 13. gilt im Volksglauben als ein Tag, an dem besonders viele Unglücke passieren. Die ehemaligen Bewohner von Röderau-Süd aber verbinden den 16. Tag eines Monats als schlechtes Ohmen, wenn er auf einen Freitag fällt. Denn am Freitag, dem 16. August 2002, brach das Unheil über 340 Menschen der Siedlung herein. Als an jenem Tag an der Elbe bei Riesa die Dämme brachen und Brücken einstürzten, versank das 1992 errichtete Wohn- und Gewerbegebiet unter den braunen Fluten. Das Hochwasser von 2002 brachte für die Haus- und Firmeneigentümer eine Schicksalswelle ungeahnten Ausmaßes mit sich.

Bis zu zweieinhalb Meter stieg das Wasser in der Neubausiedlung Röderau-Süd bei der Flut 2002. Betroffen war auch das Haus des Ehepaars Nagel (kleines Bild oben). Insgesamt 340 Bewohner mussten evakuiert werden und durften nach dem Hochwasser auch nur noc
Bis zu zweieinhalb Meter stieg das Wasser in der Neubausiedlung Röderau-Süd bei der Flut 2002. Betroffen war auch das Haus des Ehepaars Nagel (kleines Bild oben). Insgesamt 340 Bewohner mussten evakuiert werden und durften nach dem Hochwasser auch nur noc

„Es waren dramatische Tage“, erzählt Helga Nagel aufgeregt. Aus ihrem Mund klingt es so, als sei die Katastrophe erst gestern passiert. Die Erinnerung ist auch zehn Jahre danach noch immer lebendig. Nach fast 25 Jahren wohnen im Plattenbau auf dem Karl-Marx-Ring erfüllten sich die Eheleute Nagel in Röderau-Süd den Traum vom Eigenheim. Sie bauten ein zweigeschossiges weißes Fertighaus. Ringsherum ein kleiner Garten, eingegrenzt von einem braunen Holzzaun. Helga Nagel kramt ein Foto hervor, schaut nachdenklich und sagt: „Vom ersten Tag an habe ich mich dort wohl gefühlt.“

Knapp zwei Jahre lebten die staatlich geprüfte Tierheimleiterin und der Kraftfahrer glücklich und zufrieden Am Vorwerk 1. Bis zum 16. August 2002. „Die Meldungen von dem Elbehochwasser haben wir gar nicht so für voll genommen“, gesteht die heute 69-Jährige. Sie arbeitete weiterhin im Tierheim Göhlis. „Die Tiere haben die Gefahr viel früher bemerkt. Unentwegt bellten die Hunde“, berichtet sie. Es ist Mittwoch, der 14. August. Das Wasser rückte immer näher, das Rauschen wurde stärker. Gottfried Nagel schleppte zu Hause Sandsäcke. Bei 30 Grad Hitze. „Dennoch dachte ich, es wird schon nicht so schlimm werden“, sagt der heute 77-Jährige. In der Nacht zum Donnerstag klingelte gegen 1 Uhr der Nachbar an der Tür und überbrachte die erste Schocknachricht: „Wir werden evakuiert“. Doch wo sollten sie hin? Nagels ergatterten das letzte, noch freie Zimmer des Hotel Mercure`s in Riesa. „Am nächsten Morgen bekamen wir dort zum Frühstück Pralinen dazu. Die Kellnerin meinte, Schokolade sei gut für die Nerven. Das fand ich eine nette Geste.“

Eine Flut ungeahnten Ausmaßes

Nun mussten schleunigst die Tiere gerettet werden. „Wir mussten sie mit dem Schlauchboot zum Stern bringen“, schildert Helga Nagel die dramatische Situation. Zehn Hunde, drei davon nicht ganz ungefährlich, wurden leicht narkotisiert zur Stadthalle transportiert. Von dort fuhren sie in andere sächsische Tierheime wie nach Ostrau. Alle 20 Katzen wurden in Boxen ins Tierheim Auerbach gebracht. Nachdem die Tiere in Sicherheit waren, ging es für Nagels nach Dahlen, wo sie bei Sportfreunden übernachteten. „Am Freitag früh sah ich dort im Fernsehen, wie der Damm bei Promnitz brach“, berichtet Helga Nagel und fährt fort: „Da bin ich aufgesprungen und hab geschrien.“ Innerhalb von 45 Minuten ertrank das gesamte Wohngebiet Röderau-Süd in den Fluten. „Und wir konnten nicht hin, das war furchtbar!“.

Erst sechs Tage später konnten sie endlich nach Röderau-Süd zurückkehren. Ihr Haus stand noch. „Doch niemand hat sich getraut, den Schlüssel umzudrehen. Wir wussten ja nicht, was uns drinnen für ein Anblick erwarten würde“, erzählt die Seniorin. Dann der Schock. Eine dicke Schlammschicht überzog alle Einrichtungsgegenstände. Stühle, Schränke, Regale: umgekippt. Das geliebte Canaletto-Bild: komplett schwarz gefärbt. Die gewonnenen Pokale der Zwergschnauzer: verstreut in der gesamten unteren Etage.

„2,45 Meter hoch stand das Haus im Wasser. Wäre es um weitere zehn Zentimeter gestiegen, hätte es womöglich abgerissen werden müssen“, so Helga Nagel. Was folgt, sind mühsame Aufräum- und Putzarbeiten. „Irgendwann konnte ich den Dreck nicht mehr sehen“, erzählt sie weiter. „Gehen Sie heim und bauen Sie ihr Haus wieder auf“, sagte der damalige Innenminister Horst Rasch zu den Bewohnern von Röderau-Süd auf einer Einwohnersammlung. „Wir haben aufgeatmet und die Empfehlung befolgt, denn wir haben der Regierung vertraut“, erinnert sich Gottfried Nagel.

Sicherheit vor Hochwasser

Dann der Schlag in die Magengrube. Am 19. November 2002 beschloss das Kabinett, Röderau-Süd abzureißen. „Ich bin nach Hause gegangen, hab nur geheult“, erzählt Helga Nagel. Am Dienstag, dem 29. April 2003, startete der Abriss des gesamten Wohngebietes. Über 30 Millionen Euro zahlte der Freistaat Entschädigung an Hauseigentümer und Firmen.

Heute lebt das Ehepaar in Strehla. Auf der Anhöhe „Am Collmblick“. Sie haben wieder gebaut. Etwas kleiner und im Bungalow-Stil. Auch hier fühlen sie sich wohl. „Wir haben nette Nachbarn, es ist ruhig, wenn auch oft windig, aber wenigstens sind wir hier oben vor Wasser geschützt“.