Es blieb nur der Blick aus der Ferne

Johanna Scheibler aus Dornhennersdorf war gerade mit ihrer Mutter beim Melken, als ein Nachbar die Nachricht überbrachte. Der Reichenauer Lehrer Emil Engicht las sie morgens auf dem Weg zur Schule. Bergleute aus der Braunkohlegrube Türchau erfuhren auf dem Weg zur Arbeit von Soldaten, was noch an diesem Tag passieren würde. Und bei Familie Zschuppe in Kleinschönau tauchte nachts um 2 Uhr ein Kommandant auf und sagte nur: "Es stimmt doch." So berichtete Tochter Thea Zschuppe später aus der Erinnerung.
Was stimmte, das waren die Gerüchte von der Ausweisung der Deutschen aus dem Zittauer Zipfel. Aus jenem 144 Quadratkilometer großen Gebiet östlich der Neiße mit zahlreichen Dörfern rund um Reichenau, heute polnisch Bogatynia. Schon Tage vor der Vertreibung am 22. Juni 1945 waren Warnungen hier und dort aufgekommen. Emil Engicht aus Reichenau erhielt sie am 19. oder 20. Juni bei der Heuernte von einem Unbekannten. Da ihm niemand die Meldung bestätigen konnte, notierte er: "Also musste dies ein reiner Bluff gewesen sein." Nicht ernst genommen wurde das, was sich sechs Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs niemand vorstellen wollte.
So etwa resümieren die Historiker Dr. Lars-Arne Dannenberg und Dr. Matthias Donath in einem gerade im Via-Regia-Verlag erschienenen Buch. "Do hoan uns die Polen nausgetriebm" heißt es und dokumentiert erstmals umfassend die Geschehnisse im Zittauer Zipfel vor, während und nach der Ausweisung. Die wurde praktisch in Gang gesetzt mit einem Sonderbefehl des Garnisonskommandanten Oberstleutnant Zinkoswki vom 21. Juni 1945, der in dem Buch als Kopie abgedruckt ist.
Darin heißt es: "Laut Befehl der Polnischen Regierung wird befohlen: Am 22. Juni 1945 ab 8 bis 12 Uhr wird eine Umsiedlung der Deutschen Bevölkerung stattfinden." Sie werde in das Gebiet westlich der Neiße umgesiedelt. Gegen dieses Wort "Umsiedlung" wehren sich die wenigen noch lebenden Betroffenen und ihre Nachfahren spätestes seit der politischen Wende von 1989 immer wieder deutlich. "Vertrieben haben sie uns!" – diesen Satz haben Lars Dannenberg und Matthias Donath, aber auch Autoren der SZ bei Gesprächen mit Zeitzeugen immer wieder gehört.
Es ist einer, in dem viel Schmerz liegt, aber auch Wut und bis heute eine Fassungslosigkeit über das, was Tausende Menschen erleben mussten. Nur selten klingt dabei an, dass es für all das mit der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten, mit Krieg, Holocaust, Zwangsarbeit, Folter, Massenmord eine Vorgeschichte gab. Auch in der knapp 270 Seiten starken neuen Publikation wird dies nur am Rande thematisiert. Beispielsweise berichtete Helmut Brendel aus Trattlau davon, wie Männer und Frauen am Tag der Vertreibung von polnischen Soldaten mit Peitschen geschlagen wurden, „als ob sie allein die Schuld an dem furchtbaren Kriege hatten und auch sie allein die Strafe dafür verdienten, was Deutsche zuvor den polnischen Familien angetan hatten.“
Allerdings hätte eine umfassende Einordnung in die Nazi- und Kriegsgeschichte den Rahmen wohl gesprengt und wenig Raum gelassen für das eigentliche Anliegen des Buches – ein bislang wenig bekanntes Stück Nachkriegsgeschehen genau zu beleuchten. Das aber gelingt den Autoren. Und dies anhand von Fakten und Zahlen, von wenigen Fotos, aber vor allem dank zahlreicher Zeitzeugenberichte, die sie über Interviews und bei der Recherche in Archiven sowie in von Betroffenen geschriebenen Berichten gefunden haben. Diese Texte nehmen eindrücklich und oft erschütternd mit in jene Zeit voller Bangen und Hoffen, Angst, Verzweifeln, Pragmatismus, Leid, Durchhalten, Mut und Wagemut, aber auch Resignation. Um dem Verlust der Heimat zu entgehen, nahmen sich mehrere Menschen das Leben. Einige sind im Buch namentlich erwähnt.
Rechtlos in der alten Heimat
Die genauen Berichte lassen den Leser fast minuziös teilnehmen am Schicksal der Frauen, Männer, Kinder, der Greise, der Kranken. Sie packen mit Hilde Pfeiffer und ihrer Mutter in Markersdorf Koffer und Rucksack, laden mit Anna und Ernst Mätzelt in Reibersdorf Mehl und Zucker auf Handwagen. Und sie stehen mit Fleischermeister Lehmann in seinem Laden in Reichenau. Erleben, wie er am Morgen der Ausweisung noch allein den großen Kundenkreis bedient. Denn: „Alle wollten noch Wurst und Fleischwaren kaufen.“ Und so verteilte der Metzger, ohne Geld dafür zu nehmen. Er schaffte es schließlich nicht mehr rechtzeitig, für sich selbst zu packen.
Der Neuanfang in Zittau und Umgebung war schwer. Die Angekommenen, obwohl ja aus derselben Gegend, vielfach bekannt, verwandt, befreundet, wurden nur teilweise hilfsbereit aufgenommen. Vielen haben die Alteingesessenen aber auch deutlich zu verstehen gegeben: Ihr seid nicht willkommen. Der Grund – durch Flucht und Vertreibung aus Schlesien und dem Sudetengebiet lebten ohnehin schon mehr Menschen in der Region, als die Versorgungslage zuließ. Eigentlich sollten die Bürger aus dem Zipfel weitergeleitet werden nach Westpommern, Mecklenburg oder in andere Gebiete. Das war aber kaum umzusetzen. Und so quartierten sich die Menschen ein – bei Familienangehörigen, Bekannten, in Gasthöfen, mitunter in einer leerstehenden Wohnung. Sie versuchten, Aufenthaltsgenehmigungen zu bekommen, Lebensmittelkarten oder wenigsten Kartoffeln von abgeernteten Feldern. Manchen gelang vorübergehend die Rückkehr in die Heimatorte. Dort waren sie lediglich geduldet, um die Landwirtschaft und die Industrie am Laufen zu halten. Blieben ansonsten rechtlos. Sie wurden teilweise ausgeraubt, misshandelt, sogar umgebracht.
Diese Rückkehr war zumeist nur eine auf Zeit. Ab Mitte 1945 kamen polnische Siedler in das Gebiet – auch sie oft Vertriebene aus dem Osten Polens, den sich die Sowjetunion angeeignet hatte. Um 1950 soll es in und um Bogatynia noch etwa 200 Deutsche gegeben haben.
Info: "Do hoan uns die Polen nausgetriebm", Via Regia Verlag, 25 Euro, bestellbar auch über das Internet oder 035795/16010
