Von David Schneider
Aus Susanna Rosellis Wohnzimmer kann man über die Dächer von Buenos Aires schauen. Kerzengrade sitzt die 79-Jährige auf der Couch und studiert Schwarzweißfotos. Das hier ist ihr Vater, Juan Flesch, der Onkel von Jutta Schöne.
Seit fast dreißig Jahren sucht die Dresdnerin nach ihren Verwandten. Jetzt, vier Tage vor Ostern, hat sie ihre argentinische Cousine Susanna gefunden und ist „... mir fehlen die Worte – absolut happy!“
Ursprünglich stammt ihre Familie aus dem Ort Brestowatz im heutigen Serbien. Ihre Väter sind nahe der rumänisch-ungarischen Grenze im Banat geboren. Von hier wurden die deutschsprachigen Donauschwaben im Laufe der Geschichte vertrieben. Jutta Schönes Vater verschlägt es nach Dresden. Sein Tod 1976 ist der Auslöser für ihre Suche nach der Verwandtschaft: „Da hat mich mein Blut zum ersten Mal gefragt, wo ich eigentlich herkomme.“
Zunächst gehen ihre Nachforschungen nur langsam voran: „Zu DDR-Zeit waren Recherchen schwierig. Das Thema Vertreibung wurde totgeschwiegen.“ Weil sie trotzdem sucht, ermittelt sie einen Onkel und zwei Cousinen in Westdeutschland.
Dann irgendwann kommt die Wende und mit ihr die Möglichkeit, in den Archiven des kirchlichen Suchdienstes zu recherchieren. Dort sind die Daten von über 20 Millionen Menschen gespeichert, die vor dem Ersten Weltkrieg in den deutschen Ostgebieten wohnten.
Doch es vergehen Jahre, ehe Jutta Schöne ihre Suche intensivieren kann: Ihre Umschulung hat Vorrang. Erst 2003 ist ihr Berufsleben vollends geordnet. Von nun an liest sich die Sekretärin vier bis fünf Stunden pro Tag durch Fotos und Jahrbücher, analysiert Stammbäume und Gemeindebücher, trifft sich mit Zeitzeugen, mailt und telefoniert durch die Welt. Ende 2004 findet sie ihre Cousine Barbara in Innsbruck – pünktlich zum 90. Geburtstag ihres gemeinsamen „BRD-Onkels“ Jakob. Er, in Brestowatz geboren, ist die Verbindung zu Argentinien. 1946 schickt ihm sein Bruder Juan aus einem Vorort von Buenos Aires ein Lebensmittelpaket ins Kriegsgefangenenlager. Danach bricht der Kontakt ab. Warum, weiß Juans Tochter Susanna nicht: „Papa hat uns nie davon erzählt, dass wir Verwandte in Deutschland haben. Deswegen konnte ich auch nicht schreiben.“
Sie ist drei Monate alt, als sie im Dezember 1925 mit ihren Eltern und der älteren Schwester Juliana in Argentinien ankommt: „Am Anfang haben wir zu Hause deutsch gesprochen, mit der Zeit immer weniger.“ Spanisch verdrängt Deutsch aus Susannas Gedächtnis. Und auch der Familienname Flesch verliert sich mit der Zeit. Ihre Schwester Juliana heißt schon viele Jahre Vilte, als Susanna 1951 heiratet. Im selben Jahr stirbt ihr Vater und mit ihm das Wissen um die deutsche Verwandtschaft und der Nachname. Fast aussichtslos also schickt Jutta Schöne vierundfünfzig Jahre später einen Brief an die letzte ihr bekannte Adresse ihrer Verwandten. Es dauert drei Monate, dann landet er – „nicht zustellbar“ – wieder in ihrem Dresdner Briefkasten: Nicht nur die Verwandtschaft ist längst umgezogen, auch alle Häuser im Großraum Buenos Aires haben vor Jahren neue Nummern gekriegt.
Die Hoffnungen der 57-Jährigen ruhen nun auf einer E-Mail an das „Argentinische Tageblatt.“ In der deutschsprachigen Zeitung erscheint ein Artikel über die Dresdnerin. Eine alte Bekannte von Susanna liest ihn, erinnert sich und stellt den Kontakt nach Dresden her. Schon Stunden später telefoniert Jutta Schöne zum ersten Mal im Leben mit ihrer Cousine.
Der aus Wuppertal stammende Autor ist Mitarbeiter des „Argentinischen Tageblatts“