Viele Fragen im Fall Bernig

Radebeul. Den Dichter Jörg Bernig kenne ich nicht persönlich, wohl aber sein Werk. Sein 2002 erschienener Roman "Niemandszeit" berührte und bewegte mich. Später erwarb ich seine Essay-Sammlung "Der Gablonzer Glaskopf" und zuletzt seine Doktor-Arbeit zu den deutschen Stalingrad-Romanen. Aus dieser Lektüre heraus schätze ich den Radebeuler als einen tiefen Denker, der seine Worte wohl zu wägen vermag.
Vor diesem Hintergrund stellen sich mir drei Fragen zu der aktuell geführten Kontroverse:
Erste Frage: Die Süddeutsche Zeitung titelte bereits am Donnerstag: "CDU und AfD wählen neurechten Denker zum Kulturchef" Woher die überregionale Zeitung dies nur so schnell wusste? Und vor allem: Wie kann sie beweisen, dass im nichtöffentlichen Teil einer Stadtratssitzung in geheimer Wahl tatsächlich die CDU und AfD-Stadträte für Bernig stimmten? Hat Autor Maximilian Helmes wirklich alle Stadträte befragt? Oder vermutet er am Ende nur? Hätte er dies dann nicht auch ausweisen müssen?
Normalerweise passt zwischen den Radebeuler Oberbürgermeister Bert Wendsche (parteilos) und die CDU kein Blatt. Er wird von ihr im Stadtrat getragen und sitzt auf ihrem Ticket im Kreistag, ja teilt sich dort sogar den Fraktionsvorsitz mit dem Chef der Radebeuler CDU-Stadtratsfraktion Ulrich Reusch.
Bernig war bekanntermaßen nicht Wendsches Favorit. Weshalb sollten die Christdemokraten ihren OB und Reusch derart abwatschen? Woher wissen wir, ob nicht Stadträte aus anderen Fraktionen ein wie auch immer geartetes Interesse an der Wahl Bernigs hatten und haben? Kennt sich Autor Maximilian Helmes tatsächlich so gut in der Kommunalpolitik der sächsischen Kleinstadt aus, dass er dies ausschließen kann?
Zweite Frage: Fast gleichlautend wird in überregionalen Medien wie dem Deutschlandfunk darauf verwiesen, dass Bernig "für das als neoreaktionär geltende Tumult-Magazin und die von Götz Kubitschek verantwortete Zeitschrift Sezession“, schreibt. In der Süddeutschen wird immerhin noch das relativierende Adverb "unregelmäßig" hinzugesetzt. Aber solche Wörtchen verschwinden schnell im Laufe des Abschreibens voneinander. Weder "Tumult" noch "Sezession" sind verboten. Ich muss die dort verbreiteten zugespitzten Positionen nicht mögen, sie bewegen sich jedoch im Rahmen des durch den Frankfurter Philosophen Jürgen Habermas immer wieder eingeforderten demokratischen Diskurses.
Warum soll sich eine sächsische Kleinstadt nicht einen Kulturamtsleiter leisten können, der mitunter quer denkt, während im Kabinett des Freistaates die Bündnisgrüne-Justizministerin Katja Meier sitzen darf, welche in ihrer Jugend zu Liedzeilen wie "Advent, Advent – ein Bulle brennt" munter den Bass zupfte? Eine Jugendsünde nur? Nun, im Freistaat reichen zumindest "rechte" Jugendsünden schon aus, um einen Bischof aus dem Amt zu entfernen.
Dritte Frage: In Windeseile hat sich in den vergangenen Tagen Protest gegen die Wahl vom Mittwoch vergangener Woche organisiert: Radebeuler Kulturschaffende reagieren in einem offenen Brief mit "Entsetzen" und warnen vor "fatalen Folgen für die Stadt, deren Bewohner und die einzigartige Kulturlandschaft". Wer dies liest, ohne den preisgekrönten Autor Bernig zu kennen, muss davon ausgehen, dass ein Kulturbarbar ins Radebeuler Rathaus einrückt und nicht ein feinsinniger Schriftsteller. Haben die Unterzeichner je eine Zeile von Bernig gelesen? Kennen sie seine Aufsätze für "Tumult" oder "Sezession"? Warum gestehen sie ihm nicht zu, Amt und essayistische Provokation trennen zu können?