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Vom Mangel zum Überfluss

Der Beruf des Verkäufers hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Aber nicht so sehr, wie es scheint.

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© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Ines Eifler

Marita Varga legt ein Nachthemd zusammen, hängt einen BH an seinen Platz zurück und füllt ein Regal mit neuen Strümpfen auf. „Zum Beruf der Verkäuferin gehört viel mehr, als der Kunde sieht“, sagt die Inhaberin der „City-Boutique“ Ecke Berliner/Hospitalstraße, in der sie Nachtwäsche, Dessous, Strumpfwaren und Pullover verkauft. Ware annehmen, Ware einsortieren, Ordnung halten, mit Lieferscheinen, Geld und Abrechnungen hantieren, das alles sei ebenso wichtig, wie die Kunden zu jeder Zeit freundlich zu empfangen und zu beraten. „Das ist heute nicht anders als früher, auch wenn sich die Zeiten geändert haben.“ Marita Varga ist Jahrgang 1955. Vor 45 Jahren hat sie ihren Traumberuf gelernt, weil sie es als Kind liebte, ihre Mutter, die Stoff verkaufte, zu besuchen und aus Stoffresten selber kleine Ballen zu wickeln. Später lernte sie in einer Klasse angehender Textilfachverkäufer und war so spezialisiert auf ihr Fach, dass zum Beispiel die Arbeit in einem Technik-Geschäft nie für sie infrage gekommen wäre.

© Pawel Sosnowski/80studio.net

Im „S 18 Store“ genau gegenüber der City-Boutique ist Marco Zahn Filialleiter, Jahrgang 1987. Er liebt seinen Beruf genauso wie Marita Varga. „Ich habe schon als 15-jähriger Schüler im Marktkauf gejobbt“, erzählt er. „Und weil mir das alles Spaß machte, vor allem der Kontakt mit Kunden, bin ich gleich danach Kaufmann im Einzelhandel geworden.“ Marco Zahns Ausbildungsbetrieb war das Marktkauf-Gartencenter. In seiner Klasse waren Schüler, die in allen möglichen Praxisbetrieben lernten: im Lebensmittel-Discounter, im Bekleidungs-, Leder- oder Technikhandel, im Getränkemarkt und in anderen Geschäften. Ausgebildet und einsetzbar ist jeder universell, die Berufsbezeichnung enthält kein spezielles Fach mehr. Zudem ist es heute nicht mehr die Regel, dass Leute, die im Handel arbeiten, auch den entsprechenden Beruf erlernt haben. „Der Einzelhandel ist wie die Gastronomie ideal für Quereinsteiger“, sagt Marco Zahn. Wer sich für Mode interessiere, sich auch modisch kleide, gut im Umgang mit Menschen sei und etwas Kopfrechnen könne, bringe eigentlich schon alle Voraussetzungen mit. Auch der S 18 Store beschäftigt junge Leute ohne kaufmännische Ausbildung als Aushilfskräfte, vor allem an verkaufsoffenen Sonntagen und in der Weihnachtszeit, wenn der Ansturm größer ist als sonst. „Aber natürlich kann man mit einer abgeschlossenen Ausbildung mehr Geld verdienen.“

Als Marita Varga 1971 ihre Ausbildung im HO-Kaufhaus am Postplatz (später „Exquisit“ im 1. Stock, heute Leiser) begann, war Warenkunde noch ein wichtiges Thema. „Wir haben alles über die verschiedenen Web- und Strickarten, Materialien und Stoffe gelernt.“ Marco Zahn und seine Kollegen im S 18 erfahren alles über Material, Herstellung und Produktionsorte der Jacken, Jeans und Oberteile von den Handelsvertretern. „Das Wissen ist heute schnelllebiger als früher“, sagt der junge Filialleiter. „Es gibt viele neue Materialien und Mischgewebe. Das Interesse der Kunden an den Herstellungsbedingungen wächst. Da verändert sich viel. Wir nehmen aktuelles Wissen auf und geben es direkt weiter.“

Wenn Kunden zwischen Einkaufen in Görlitz vor 40 Jahren und heute vergleichen, ist der Unterschied vor allem der zwischen Mangel und Überfluss. Verließen die Menschen früher ein Geschäft, weil es dies oder jenes nicht gab, können sie sich heute oft nicht entscheiden oder verlassen das Geschäft, weil sie meinen, das Gleiche woanders günstiger zu bekommen. Marco Zahn erlebt es nicht selten, dass Kunden etwas anprobieren und sogar abfotografieren. „Dann weiß man genau, sie gehen heim und bestellen im Internet.“

Marita Varga erinnert sich trotz Mangel gern an früher. „In der DDR musste man eben zu den Großhändlern freundlich sein, dann bekam man auch etwas.“ Nach ihrer Zeit am Postplatz leitete sie das Geschäft „Die Dame“ auf der Berliner Straße (heute WMF und McPaper). Besonders gern denkt sie ans „Exquisit“ zurück, wo man überteuerte Artikel aus dem Westen Deutschlands kaufen konnte. „Wie gut es immer roch, wenn die Pakete kamen!“

Heute riechen die Pakete nicht immer gut, besonders wenn die Ware monatelang auf Schiffen unterwegs war. Für Marita Varga ist der Umgang mit Kleidungsstücken, die in der ganzen Welt so billig hergestellt werden, dass in Europa Produziertes kaum mithalten kann, die einschneidendste Veränderung, die sie in ihrem Berufsleben erfahren hat. „Es ist schade“, sagt die 61-Jährige, „dass unsere ganzen guten Betriebe, die Anfang der 1990er noch produziert haben, einfach plattgemacht wurden, weil sie sich nicht behaupten konnten.“

Heute würden die „Zutaten“ etwa für Dessous vom Garn bis zum BH-Verschluss von überallher zusammengekauft und da zusammengesetzt, wo die „Nähstunde“ am wenigsten koste. Auch der Einsatz vieler Chemikalien sei besorgniserregend. „Zum Glück haben wir einige deutsche und österreichische Hersteller gefunden, die nachhaltig und umweltbewusst produzieren und deren Waren wir guten Gewissens anbieten können“, sagt sie. Was Marco Zahn als Interesse der Kunden an den Herstellungsbedingungen erlebt, nimmt auch sie wahr. So gebe es immer mehr Kunden in Görlitz, denen die Qualität der Produkte wichtig ist und die dafür auch Geld ausgeben. „Schwierigkeiten gab und gibt es zu jeder Zeit im Handel“, sagt Marita Varga. „Aber das Schöne am Verkaufen und am Kontakt zu den Menschen ist geblieben.“