Von Hartmut Landgraf
Schmilka, wie geht es dir? An wen soll man sich wenden, wenn man auf diese Frage eine Antwort will? Das kleine Dorf an der Elbe hat seit Tagen nichts von sich hören lassen. Keine Nachricht geht rein – keine Nachricht kommt raus. Strom und Telefonnetz sind abgeschaltet. Auf der einzigen Straße, die nach Schmilka führt, der B 172, steht meterhoch die Flut, am Dienstag hat sie den Leuten auch ihre Fluchtmöglichkeit über den sogenannten Holzlagerplatzweg genommen. Seitdem kommen weder Arzt noch Feuerwehr nach Schmilka. Es ist, als habe der Ort zu existieren aufgehört, als habe man ihn von der Landkarte radiert.


Aber er lebt. So behauptet zumindest der Schmilkaer Hotelier Sven-Erik Hitzer. Hitzer ist einer der wenigen, die das mit Bestimmtheit sagen können. Er kennt einen Schleichweg über die Berge – den letzten Faden zur Außenwelt, der noch nicht gerissen ist. Bald sandig, bald steinig schlängelt er sich am Fuß der Schrammsteine entlang durch den Wald. Auf Straßenkarten sucht man ihn vergeblich, nur in Wanderkarten taucht sein Name auf: der Elbleitenweg.
Der Elbleitenweg ist breit genug für ein Auto. Aber er ist nicht für ein Auto gemacht – jedenfalls nicht für ein normales. Ohne Allradantrieb käme man auf dieser Geländepiste keinen Kilometer weit. Es gibt nur zwei Leute im Dorf, die einen Geländewagen haben. Hitzer hat einen Kleinbus, immerhin mit Allradantrieb.
Ich habe ein Fahrrad – im Auto. Ich will den Hotelier in Schmilka treffen. Mit sehr viel Sprit und Geduld bin ich von Pirna um die hintere Sächsische Schweiz herum bis nach Ostrau gekommen. 60 Kilometer, anderthalb Stunden. Die Elbe zwingt zu kaum vorstellbaren Umwegen. Jetzt heißt es umsteigen. Und selbst mit dem Rad ist der Elbleitenweg eine Schinderei. Bis Schmilka vergehen weitere 40 Minuten.
12 Uhr. An der Schmilkaer Revierförsterei parken 20 Autos. Hierher haben die Elb-Anwohner ihre nutzlos gewordenen Fahrzeuge geschafft. Das Hämmern eines Notstromaggregats zerreißt die Stille. Zunächst ist nirgendwo ein Mensch zu sehen. Auf einer Tafel an der Försterei steht der aktuelle Wasserstand: 10,63 Meter. Durchs Dorf hinab führt ein gepflastertes Stück Straße weiter – und geradewegs in die Elbe. Bis zum Café Grenzeck kommt man nicht mehr ohne nasse Füße. Die Häuser an der B 172 bilden die Uferlinie, in einigen steht die Flut mannshoch.
Ein Anblick, den man in den letzten Tagen schon oft gesehen hat – und der doch immer wieder schmerzt. Schmilka ist eigentlich ein hübscher kleiner Ort: Eine restaurierte Mühle mit Mühlenbäckerei, ein Umgebindehaus, zwei Kneipen, eine Quelle – Blumen in den Vorgärten. Jetzt aber ist das Schmilkaer Unterdorf nur noch eine totenstille Wasserwüste. 140 Einwohner hat der Ort normalerweise. Mindestens die Hälfte ist fort, sagt Thomas Petters. Der Polizist steht in blauer Trainingshose und Gummistiefeln fassungslos am Hang oberhalb von seinem Haus. Das Gebäude steht wie eine Insel im Elbeschlamm. Ringsherum hat sich ein Ölfilm gebildet, irgendwo im Dorf muss ein Kessel geplatzt sein. Petters hat das Haus nach dem Jahrhunderthochwasser 2002 flutgeschädigt gekauft und saniert. Jetzt sieht er die ganze Arbeit den Bach runtergehen. Er fühlt sich von der Welt alleingelassen. Hubschrauber fliegen über Schmilka hinweg, drüben am anderen Ufer fahren noch immer Züge – aber nach Schmilka kommt niemand. „Wir sind das vergessene Dorf“, sagt Petters.
Auch Nachbar Matthias Deußing hat’s hart erwischt. Er hat es nicht mehr geschafft, alles von Wert ins Obergeschoss zu räumen. Waschmaschine und Trockner waren zu schwer. Nun fließt die Elbe durchs Schlafzimmer. „Ich hab kein Zuhause mehr“, sagt der 28-Jährige bitter. Es ist ein Trauerspiel – vergleichbar mit 2002. Wieder bringt der Fluss Leid und Verzweiflung, wieder zerstört er Existenzen. In jedem Ort elbabwärts wiederholt sich das. Schmilka ist dabei immer das erste Opfer.
Aber der Ort wird sich auch diesmal nicht aufgegeben. Revierförster Joachim Thalmann zum Beispiel hat sich selbst zum Fahrdienst eingeteilt. Der Förster schafft mit seinem Geländewagen Kranke aus dem Ort – und bringt auf dem Rückweg Dinge des täglichen Bedarfs aus der Stadt mit, von der Zigarettenstange bis zum WC-Stein. Er holt für die Schmilkaer sogar Geld von der Bank. Das Dorf, sagt er, gibt sich nicht auf, sondern rückt enger zusammen.
Deshalb will ich auch Sven-Erik Hitzer sprechen. Der Hotelier war in den letzten Jahren so etwas wie Adrenalin für Schmilka. Er hat Leben ins Dorf gebracht, die Mühle restauriert, die Bäckerei in Betrieb genommen – Pensionen eröffnet. Vorn an der B 172 steht sein Hotel „Helvetia“, Sachsens erstes Bio-Hotel. Rund vier Millionen Euro hat er in Schmilka investiert. Ich treffe ihn schließlich, wie könnte es anders sein, an der Elbe – in T-Shirt, grüner Latzhose und Gummistiefeln. Der Mann scheint mitnichten verzweifelt: Er sprüht vor Energie. Hitzer ist einer, der die Nerven behält, auch angesichts der braunen Brühe, die sein Hotel durchflutet – und er denkt schon ans Aufräumen. Er habe einen Plan gehabt, als das Wasser kam, sagen seine Angestellten. Er werde auch einen Plan haben, wenn es wieder fort ist. Hitzer karrt mit seinem Kleinbus Schaufeln und Putzgeräte über den Elbleitenweg. Er spielt Taxi für seine Leute, hat für jeden ein aufmunterndes Wort. Und ein Ziel: „Am 1. Juli“, hat er sich in den Kopf gesetzt, „muss die Tourismussaison in Schmilka weitergehen“.