Von Jörg Stock
Fußlappen sind was Feines, sagt der Steiger. Im Umkleidekabuff, das man hier Schwarzkaue nennt, versuche ich, die Fußbekleidung anzulegen, deren Existenz außer Bergleuten wohl nur noch russischen Soldaten bekannt ist. Der Steiger gibt Tipps, ich falte das gelbblau gestreifte Flanell um Zehen, Spann und Ferse. Jetzt rein in den Gummistiefel. Fühlt sich gar nicht schlecht an. Schön weich. Lappen Nummer zwei sieht aus wie ein Weihnachtsdeckchen, knallrot mit Hirschen drauf. Oder sind es Elche? Ein gutes Omen, findet der Steiger. „Da kannst du laufen wie ein Elch.“



Ich fahre mit Andreas Guhr in den Wismut-Stolln ein. Natürlich zu Fuß. Nur hoher Besuch wird mit der Elektro-Lok chauffiert, sagt Guhr. Als Steiger ist er der Chef hier. Und er kriegt viel neugierigen Besuch. Sein Stollen gehört zu den letzten untertägigen Großbauten der Wismut. Zum Tag der offenen Tür kamen einmal anderthalbtausend Menschen gucken. Guhr spielt ungern den Gästeführer. Das muss er nicht mehr lange. Der Wismut-Stolln ist fast fertig. Nur rund zwanzig Meter fehlen dem gigantischen Tunnelbau noch bis zu seiner vollen Länge von 2,9 Kilometern.
Der Osterberg schluckt uns. Am Mundloch hängen wir kleine Bleche mit Nummern an ein Brett, die Seilfahrtsmarken. So weiß jeder, dass wir unter Tage sind. Wir wollen zu den elf Kumpels, deren Marken schon baumeln. Sie sind vor Ort, das heißt am Ende der Strecke, an jener Stelle, wo abgebaut wird. Im Wismut-Stolln baut man eigentlich nichts ab. Man fördert für die Halde. Der Hohlraum ist das Ziel. Der Stollen wird Freitals dickste Wasserleitung. Er soll Grubenwasser aus dem Revier Gittersee abführen, wo man bis 1989 nach Uran suchte. Baukosten: 22 Millionen Euro.
Auf der Rampe geht es hinab. Die schiefe Ebene ist der Zugang zum Stollen. Apropos: Warum fehlt dem Wismut-Stolln eigentlich das „e“? „Sonst hätte er Rosinen“, sagt der Steiger trocken. Um uns rum wird es feucht. Aus Klüften und Löchern rinnt Wasser, manchmal so munter, als hätte einer den Hahn aufgedreht. Zu Spitzenzeiten, sagt Guhr, hat man pro Stunde fünfzig Kubikmeter Wasser abpumpen müssen.
Um nicht ständig im Regen zu stehen, wird improvisiert. Zum Beispiel über uns, an der Stollenfirste. Dort hängen rote Plasteschüsseln. Sie fangen die Rinnsale auf und leiten sie über Schläuche an den Rand des Ganges. Das viele Wasser ist ein Grund dafür, wieso das Projekt nicht wie gedacht 2009 fertig war. Einen zweiten Grund führt Steiger Guhr an der Stollenwand vor. Sie bröselt unter seinen Fingern. „Das ist Mist“, sagt er. Der eigentlich sehr harte Porphyr ist eingesprengt in Tuff und Ton. Vermengt mit Wasser wird daraus ein Brei, der sich selbstständig macht. Anker und Spritzbeton, manchmal zwanzig Zentimeter dick und mit Stahl verstärkt, wurden eingebaut, um den Tunnel standfest zu machen.
Die Rampe hört auf. Wir sind im Wismut-Stolln. Rechts kommt man nach etwa zwei Kilometern in den Tiefen Elbstolln, der zum Cottaer Elbestrand führt. Wir gehen links. 940 Meter bis vor Ort, sagt Guhr. „Ist doch ein Spaß.“ Mir zerrt der Selbstretter, ein fünf Kilo schwerer Brocken, schon schmerzlich an der Schulter. Wenigstens sitzen die Fußlappen tadellos.
Ein Funke reicht zur Katastrophe
Der Stollen ist reich ausstaffiert mit Leitungen und Rohren aller Art und Stärke für Luft, Wasser, Starkstrom und Daten. Das gelbe Kabel ist das Sprengkabel. Heute wird aber nicht gesprengt. Heute werden die Leitungen zum vorgerückten Abbauort verlängert, auch die dicken Blechröhren an der Decke. Sie saugen die Wetter, die Luft, vor Ort ab. Staubpartikel, die durch ihr Inneres treiben, säuseln uns leise etwas vor.
In den letzten Tagen ist der Stollenbau komplizierter geworden. Die Bergleute graben bald in die Steinkohle hinein. Wo Kohle ist, da ist auch Gas, Methan zum Beispiel. „Ein Funke, und die Hütte geht ab“, sagt der Steiger. Deshalb bauen seine Leute nun zusätzliche Spürtechnik ein. Das Messprogramm wird intensiver, der Vortrieb behutsamer, der Sprengstoff weniger brisant.
Wir marschieren weiter, immer den Gleisen nach, über Schotterstrecken und Kreuzweichen hinweg, vorbei an Abstellbahnhöfen, Schaltstationen und Materialstapeln. Jedes noch so kleine Teil haben die Bergleute selber hier hereingeschleppt und installiert. Nur bohren, sprengen und fördern? Schön wär’s, sagt der Steiger. Ein Riesenaufwand ist hier unten nötig, um überhaupt arbeiten zu können.
860 Meter. Stimmen. Dann sehen wir die Männer der Frühschicht. Im Lampenschein hangeln sie unter der Decke herum, bohren Dübellöcher, nesteln an Kabelsträngen. Die kleine Grubenbahn, ratternd wie ein ganzer Metro-Zug, bringt herbei, was gebraucht wird. Im Schatten der Baustelle liegt das vorläufige Ende des Stollens. Grau und glatt ist die Wand, die man Scheibe nennt. Morgen, vielleicht schon in der Mittagsschicht, wird die Scheibe eingeschlagen, von den Sprengladungen, die in achtzig Bohrlöchern explodieren.
Die Männer grüßen ihren Chef mit deftigen Sprüchen. „Mach mit, dann wird’s schneller fertig!“ Der Ton ist rau, aber herzlich. Dem Steiger Andreas Guhr macht keiner mehr was vor. Fast 42 Jahre ist er unter Tage. Er mag das Ringen mit der Natur, die einem helfen, aber auch – wie manchmal hier im Wismut-Stolln – das Leben zur Hölle machen kann. Und er mag den Gedanken, dass dort, wo er hinkommt, noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist. Eine Ansage, die sich verstaubt anhört und für viele auch ist, gilt für Andreas Guhr bis heute: Ich bin Bergmann. Wer ist mehr?