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War Marx ein Rassist und Antisemit – und muss weg?

Im „Bildersturm“-Streit geht es nicht um radikales Denkmalschleifen. Sondern um neue Blicke auf alte Biografien und kritische Erweiterungen.

Von Oliver Reinhard
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Schwer zu fassen: Karl Marx äußerte sich oft judenfeindlich, zugleich kämpfte er für Rechte und Gleichberechtigung der Juden.
Schwer zu fassen: Karl Marx äußerte sich oft judenfeindlich, zugleich kämpfte er für Rechte und Gleichberechtigung der Juden. © Thomas Frey/dpa

Auch fremde Worte können einem im Halse stecken bleiben. Etwa diese: „Welches ist der weltliche Kultus des Judentums? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Weiterhin sind vom Autor dieser Zeilen Sätze überliefert, die einen seiner Konkurrenten als „jüdischen Nigger“ bezeichnen und den eigenen kreolisch-stämmigen Schwiegersohn einen „Negrillo“ und „Abkömmling eines Gorillas“ nennen. Jene Passagen stammen nicht aus der Feder Adolf Hitlers oder eines anderen radikalen Rassisten und Antisemiten. Sondern von Karl Marx. Seit Jahrzehnten bekannt und immer wieder debattiert, werden sie jetzt wieder hervorgeholt, als Defensivwaffen in einem vermeintlichen Kulturkampf. So titelt etwa Wolfram Weimer, konservativer Publizist und Ex-Chefredakteur von Welt, Focus und Cicero, auf der Webseite von n-tv: „Karl Marx war einer der übelsten Rassisten.“

Das lässt zwar daran zweifeln, ob der Autor weiß, was wirklich üble Rassisten so von sich geben und tun. Aber es zeigt immerhin, welchen Grad an Hysterie die Diskussionen um die aktuellen Beispiele von Denkmalstürzen, Bilderstürmen oder inkriminierten Hollywood-Filmen wie „Vom Winde verweht“ erreicht hat. Anlass ist das Wiederaufflammen der Rassismus-Debatte, angefacht durch erneute Gewaltexzesse in den USA von Polizisten gegen Schwarze und darauf folgende Ausschreitungen.

Seither wird überwiegend konstruktiv für einen faireren, sensibleren und bestehende Ungerechtigkeiten beseitigenden Umgang mit Minderheiten gestritten. Doch wie immer gibt es auch radikalere Stimmen, die unter anderem Forderungen nach dem Sturz von Denkmalen mutmaßlich rassistischer Figuren der Zeitgeschichte stellen oder gleich selbst Hand, Hammer oder Säge anlegen. Ins Visier der Bilderstürmer sind vor allem Persönlichkeiten des Kolonialismus und Imperialismus geraten. Aber auch Politiker wie Winston Churchill und der belgische König Leopold II, zudem in Deutschland Denker wie Immanuel Kant und eben Karl Marx.

Wohlgemerkt: Es gibt weder politische noch gesellschaftliche noch mediale Mehrheiten, die in dieser Debatte radikale Positionen vertreten; das tun nur sehr wenige Stimmen. Trotzdem erwecken einige Kritiker der Kritiker nun den gegenteiligen Eindruck und fantasieren eine Art linksintellektuellen Volksaufstand herbei. Ihre alarmistische Hauptsorge hyperventiliert der populäre Kolumnist Harald Martenstein im Tagesspiegel: „Das liberale Wertesystem landet grade auf dem Sperrmüll.

Bilderstürme, den Ikonoklasmus, gibt es seit der Antike. Sie fanden zumeist statt nach gewaltsamen Wechseln eines Herrschaftssystems, nach Eroberungen von außen, nach Revolutionen. Manchmal schlug der „Volkszorn“ den Symbolfiguren ihrer verhassten und gestürzten Unterdrücker die Köpfe ab, manchmal taten es die Eroberer mit Statuen ihrer besiegten Gegner. Die berühmtesten deutschen Beispiele sind die Büsten von Adolf Hitler nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges oder die Entsorgung von Lenin- und Marx-Denkmalen nach dem Ende der DDR. Letzteres belegt aber auch: Dabei wurde immer wieder korrigierend nachgebessert, sobald der erste Furor verklungen war und eine vernünftige Diskussion eingesetzt hatte: Lenin blieb verbannt, Marx-Male wurden rehabilitiert.

Was nun in Gang geraten ist, lässt sich am sachlichsten und neutralsten als Sensibilisierungsprozess bezeichnen. Dabei soll durch kritische Auseinandersetzung ein Weg gefunden werden, wie man heute auch mit dem memorialen Erbe solcher Figuren zeitgemäß umgehen könnte, deren Biografien neben vielen unzweifelhaft positiven Verdiensten eben auch Zweifelhaftes aufweisen. Die Entfernung ist dabei nur die äußerste Möglichkeit. Erwähnen und Kenntlichmachen der problematischen Aspekte eine weitere. Die Dritte: das unveränderte Stehen- und Bestehenlassen.

Vivien Leigh als Scarlett O'Hara und Clark Gable als Rhett Butler in einer Szene des Films "Vom Winde verweht" (1953). Der Hollywood-Klassiker zeigt den US-Bürgerkrieg aus Sicht der Sklavenhaltergesellschaft und beinhaltet einige üble Schwarzen-Klischees.
Vivien Leigh als Scarlett O'Hara und Clark Gable als Rhett Butler in einer Szene des Films "Vom Winde verweht" (1953). Der Hollywood-Klassiker zeigt den US-Bürgerkrieg aus Sicht der Sklavenhaltergesellschaft und beinhaltet einige üble Schwarzen-Klischees. © Warner Bros. Home Entertainment/dpa

Nun ändern sich mit den Zeiten auch Wertevorstellungen. Vieles, was im Kaiserreich als allgemein akzeptiert galt, war es in der Weimarer Republik nicht mehr. Was der Nationalsozialismus als verbindliche Ideologie verordnete, wurde vom Sozialismus abgeschafft. Und die Menschenwürde hat in deutschen Diktaturen andere Auslegungen erfahren als in deutschen Demokratien. Das hatte und hat direkte Konsequenzen für die jeweiligen Bilder und Denkmale und unseren Umgang damit.

Doch kann es nicht darum gehen, Denkmale aus vergangenen Epochen unserer Geschichte und die Hinterlassenschaften ihrer Geisteshaltungen zu schleifen, nur weil sie uns heute in Gänze oder zum Teil als nicht mehr zeitgemäß oder gar verachtenswert gelten. Sie gehören zu unserem kulturellen und historischen Erbe, und heutige Maßstäbe allein reichen zu ihrer Beurteilung nicht aus. Wer Luther oder Wagner wegen ihrer antisemitischen Tendenzen rundweg verdammt, diese aber nicht im Kontext ihrer Zeiten und Mentalitäten zu erklären versucht – nicht zu entschuldigen – geschweige denn sie abwägt gegen den „Rest“ ihres Denkens und Schaffens, der handelt selektiv und letztlich geschichtsklitternd. Zumal auch ihre Denkmale ebenfalls kulturelle Zeugnisse sind.

Gleichwohl ist es legitim, in angebrachten Fällen auch kulturelle Zeugnisse zu entsorgen. Nämlich dann, wenn sie die memoriale Ausblendung oder gar Rechtfertigung von Unterdrückung, Erniedrigung, Ausgrenzung und Diskriminierung bis hin zum Mord betreiben oder ihr Vorschub leisten. Wie etwa Statuen des US-Generals Robert E. Lee, der das Sklavenhaltersystem der Südstaaten verteidigte. Oder des belgischen Königs Leopold II, der einer der härtesten europäischen Kolonialherrscher und faktisch ein Massenmörder an den Kongolesen war.

Das Beispiel Karl Marx zeigt, wie komplex eine solche Einzelfall-Auseinandersetzung sein kann. Aber ebenso, welchen Gewinn das bringen kann. So lassen sich seine Ausfälle kaum hinreichend erklären, wenn man ignoriert, dass Marx selber jüdischer Herkunft und daher immer wieder antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war. Auch von Mitstreitern; große Teile der deutschen und französischen Theoretiker des Sozialismus seiner Zeit waren zumindest phasenweise antisemitisch. Dass sich angefeindete jüdische Konvertiten oder vom jüdischen Glauben abgefallene Menschen wie Marx erst recht demonstrativ von ihrer Herkunft distanzierten, oft mit drastischen judenfeindlichen Tiraden, war ebenfalls keine Seltenheit.

Die Sicht der Sklavenhalter

Zweifellos hat Karl Marx antisemitische Klischees besonders unbekümmert verwendet. Dennoch sind sich die meisten seiner Kritiker einig: Der Antisemitismus war bei ihm keine geschlossene Weltanschauung, weder seine Wertanalyse noch die Kritik der politischen Ökonomie sind antisemitisch. Sein Biograf Richard Friedenthal verweist auf bemerkenswerte und schwer aufzulösende Gleichzeitigkeiten: Der jüdischstämmige Karl Marx fiel notorisch mit judenfeindlichen Bemerkungen auf, was ihn aber nicht daran hinderte, dies mit politischem Engagement für die bürgerlichen Rechte der Juden zu verbinden. In der gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Schrift „Die Heilige Familie“ stellte er 1844 klar: Staaten, „welche die Juden noch nicht politisch emancipiren können, sind ... als unentwickelte Staaten nachzuweisen“.

Eben wegen solch vielschichtiger historischer Persönlichkeiten, wie Marx und auch Churchill es waren, hat jene nun erneut aufmerksam gewordene nichtradikale kritische Mehrheit auch gar nicht vor, deren Denkmale zu stürzen. Vielmehr geht es ihr darum, deren Leben und Wirken neu zu hinterfragen, problematische Facetten dabei nicht mehr zu verschweigen, sie zu thematisieren und bei Bedarf zu ergänzen.

Letzteres lässt sich in vielen Fällen recht problemlos praktisch umsetzen, durch Beschriftungen in Museen, neue Vorworte in Büchern, Kontextualisierungen auf Gedenktafeln. Beim meistumstrittenen aktuellen Beispiel aus dem Filmbereich wäre das sogar mit minimalem Aufwand zu lösen: Der Hollywood-Klassiker „Vom Winde verweht“ von 1936, der den US-Bürgerkrieg aus Sicht der Sklavenhaltergesellschaft zeigt, beinhaltet einige entsprechend üble Schwarzen-Klischees und vermittelt und verstärkt sie dadurch. Dieses Problem ließe sich schon durch einen simplen Hinweis nach dem Vorbild der Jugendfreigabe-Hinweise im Vorspann auffangen, was darüber hinaus die Zuschauer zur kritischen Wahrnehmung befähigen und zur eigenständigen Diskussion anregen könnte: „Dieser Film enthält rassistische Darstellungen, die die Gefühle vieler Menschen verletzen können.“