Von André Anwar
Norwegen leidet unter akutem Mangel. In dem dank Öl und Gas reichsten Land Europas fehlt es an Krankenhausplätzen, an Ärzten und Krankenschwestern. Und es fehlt an Gefängnissen. Die Lage beim Strafvollzug im nur fünf Millionen Einwohner zählenden Land spitzt sich immer weiter zu. Die Zellen des Königreichs sind bis zum allerletzten Platz belegt. So müssen verurteilte Straftäter teils monatelang bis zur Zuweisung eines Zellenplatzes in Freiheit ausharren.


Derzeit warteten über 1 000 Verurteilte darauf, ihre Gefängnisstrafe antreten zu „dürfen“. Auch vermeintlich gefährliche Personen, die laut richterlicher Anweisung in Untersuchungshaft gehören, müssen immer häufiger wegen Zellenmangels wieder freigelassen werden, berichtete der öffentlich rechtliche Rundfunk NRK.
So musste die Polizei im Distrikt Helgeland einen Mann, der wegen eines Messerangriffs verhaftet wurde, nach wenigen Tagen entgegen richterlicher Haftanordnung freilassen. „Wir haben die ganze Zeit versucht, eine Zelle für ihn zu finden. Es gab keine in ganz Norwegen“, räumte Oberstaatsanwältin Kristin Elnaes ein. Insgesamt waren bei dem Ereignis fünf Personen verhaftet worden. Nur vier statt fünf freie Zellen konnten ausfindig gemacht werden. „Wir waren gezwungen zu entscheiden, wen wir freilassen“, so die Staatsanwältin. Der ganze Zweck der Untersuchungshaft sei ja, „Kriminelle daran zu hindern, Beweise zu vernichten und weiterhin eine Gefahr für die Gesellschaft darzustellen“, so Elnaes.
Dass Personen entgegen richterlicher Anweisung freigelassen werden müssen, sei in der Praxis leider nicht ungewöhnlich, so die Staatsanwältin. Oft müssten Gefangene dann in weit entfernte Landesteile transportiert und zu den Verhandlungsterminen jedes Mal wieder zurückgebracht werden. Das binde viel Justizpersonal, so Elnaes. „Personen nach ernsten Straftaten freilassen zu müssen, untergräbt die Rechtssicherheit und die Strafverfolgung in Norwegen“, warnte sie.
Die Polizei fordert schon seit Jahren den Ausbau der Gefängniskapazitäten. Das geschieht nun auch, aber es dauert. Das Land schwimmt theoretisch durch seine Öleinnahmen in genug Geld, um sämtliche gesellschaftlichen Probleme binnen kürzester Zeit zu beheben. Doch jährlich dürfen nur vier Prozent der Öleinnahmen für den Staatshaushalt ausgegeben werden.
Norwegen ist zudem auch für seinen sehr humanen, aber dadurch auch teuren Strafvollzug bekannt. Zumindest stramme Rechtskonservative bezeichnen die Gefängnisse verachtend als Luxushotels, in denen sich Kriminelle etwa bei Musikworkshops in Bandproberäumen oder einem Malkurs im Gefängnis-Atelier selbst verwirklichen könnten, statt zu büßen.
Ein Versuch des Justizministeriums, die geräumigen Einpersonenzellen zu Zweierzellen umzubauen, scheiterte an der Gewerkschaft der Strafvollzugsbeamten. Die befürchtet schwierigere Arbeitsverhältnisse. Nun wollte Norwegens Justizminister Anders Anundsen Gefängnisplätze in Schweden anmieten, was in Stockholm auf leichte Verwunderung stieß. Denn Schweden müsste dann norwegische Amtshandlungen ausüben oder norwegischen Behörden erlauben, in Schweden zu operieren.