Warum Corona sogar den Büchern schadet

Vier Kinder dürfen exklusiv einen neuen Freizeitpark testen. Doch es folgt Panne auf Panne. Während der Fahrt im Wildwasserbach fällt der Strom aus. Die vier bleiben stecken und kommen nur raus, wenn sie zusammenhalten. Mit dieser Geschichte wollte die Stiftung Lesen den Welttag des Buches an diesem 23. April feiern. Freizeitpark? Katastrophe? Zusammen im Team? Die Wahl des Textes sollte man noch mal überdenken. Aber der Welttag fällt sowieso aus. Er wird auf September verschoben. Vielleicht gibt es dann wieder Schule für alle. Verschieben wird so selbstverständlich wie Niesen in die Armbeuge. So fing´s damals an.
Die Aktion „Ich schenk dir eine Geschichte“ bringt jährlich eine Million Bücher unter das junge Lesevolk. Die vierten Klassen können sich um Gutscheine für den ausgewählten Titel bewerben. „Abenteuer in der Megaworld“ heißt der Band, denn Mega und World machen einen deutschen Freizeitpark erst attraktiv. Die Kosten für das Buch tragen die Buchhändler, die sich an der Aktion beteiligen, 3.500 Läden deutschlandweit. In Katalonien wird ein Roman plus Rose verschenkt. Weil das ein schöner Brauch ist und weil das Ganze am Georgstag steigt und weil am 23. April auch Jubiläen von Shakespeare, Cervantes und dem isländischem Nobelpreisträger Halldór Laxness anstehen, falls man Differenzen zwischen dem julianischen und dem gregorianischen Kalender vernachlässigt … Jedenfalls wählte die Unesco aus solchen Gründen den 23. April zum Welttag des Buches. Es sollte eine Werbung fürs Lesen sein. Heute wäre Überstehen für die meisten Beteiligten eine prima Alternative. Zu verschenken haben sie nichts.
Schade um Hasenbücher
„Die politischen Autoritäten haben es aufgrund mangelnden kulturellen Selbstbewusstseins zugelassen, dass Bücher, die einen Ehrenplatz in der Hierarchie zwischen Lebensmitteln und Medikamenten verdient hätten, als nicht notwendig eingestuft wurden für die physische und psychische Gesundheit der Bevölkerung.“ So heißt es in einem Brief von Lothar Schirmer, Chef des renommierten Bildbandverlags Schirmer/Mosel. Er vergleicht seine Bücher mit Waisenkindern und Obdachlosen vor verschlossenen Türen.
Nun stehen die Türen in Sachsen zwar seit vier Tagen wieder offen, doch die Verluste bleiben riesig. Die Lücken im Budget der Verlage kann der Internethandel nicht ausgleichen, auch wenn er verständlicherweise besser lief als das stationäre Geschäft. Dabei haben sich die Buchhändler vor Ort viel einfallen lassen. Sie haben ihren Käufern die Waren bis zur Haustür gebracht, haben Videos gedreht und als Buchtipp verschickt, und nicht selten entwickelte sich ein Kundengespräch am Telefon zur Seelsorge.
Das alles hält den Abwärtstrend nicht auf. Der Börsenverein als Branchenverband schätzt den Umsatzausfall auf eine halbe Milliarde Euro. Davon sind alle Sparten betroffen. Am heftigsten hat es die Reiseführer erwischt mit einem Minus von sechzig Prozent gegenüber dem Vorjahresmärz. Notfalls findet sich ja der Weg zum Supermarkt auch ohne Wanderkarte. Die Aprilbilanz wird sicher noch düsterer mangels Osterfest. Schade um all die Hasenbücher. „Nur noch kurz die Ohren kraulen“ taugt zwar als lebenslänglicher Bestseller. Doch die Druckerei will jetzt bezahlt sein.
Das Debakel trifft eine Branche, die ihre Kunststücke ohnehin oft am Rand des Abgrunds vollführt. Es ist noch nicht lange her, da mussten Verlage nach einem Gerichtsurteil etliche zehntausend Euro an die Verwertungsgesellschaft Wort nachzahlen. Dann kam die Insolvenz des Zwischenbuchhändlers KNV. Dann kam die Portoerhöhung für Buchsendungen. Falls ein Verleger bis dahin noch ein geheimes Finanzpolster besessen haben sollte, war es damit vorbei. Spätestens aber mit der Absage der Leipziger Buchmesse.
Die Buchwelle rollt an
Lutz Seiler erhielt für den Roman „Stern 111“ den Preis der Leipziger Buchmesse ohne Messe. Eugen Ruge wurde Mainzer Stadtschreiber ohne Festakt. Sächsische Autoren wie Volker Sielaff, Uwe Kolbe oder Roza Domascyna brachten neue Lyrik beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit heraus. Und nur die Brotbackbücher gehen weg wie, nun, wie geschnitten Brot. Viel gefragt ist auch Tim Mälzers Band „Für jeden Tag“. Er liefert Rezepte für schnelles und einfaches Kochen mit „Geling-Garantie“. Wer hätte das nicht gern im Homeoffice am Küchentisch. Schriftsteller üben diesen Zustand schon immer. Gelegentlich verlassen sie das Gehäuse für Lesereisen. Mancher Autor verdient mit dem Vorlesen seiner Texte bis zu 80 Prozent seines Einkommens. Auch das fällt nun weg, solange Bibliotheken geschlossen bleiben und Buchhändler auf Distanz gehen.
Der digitale Vortrag kann das Original nicht ersetzen, weder finanziell noch überhaupt. So reizend es sein mag, wenn sich Literaten vor der sehr überraschenden Kulisse ihres heimischen Bücherregals samt Birkenfeige in Szene setzen: Irgendwas fehlt. Die Aura? Das Authentische? Das Hüsteln des Publikums? Dann lieber nur Hörbuch. Doch, doch, es gibt solche ohne Känguru. Dessen Eigentümer Marc-Uwe Kling scheint freilich wie festgemeißelt auf den ersten fünf Plätzen der Bestenliste zu stehen. Nur Harry Potter hat sich dazwischengezaubert – die Box reicht für 136 Stunden und 56 Minuten. Was bitte tut man in den restlichen vier?
Manchmal fehlt auch das neue Buch. Einige Verlage gingen Anfang April in Kurzarbeit, der angesehene Carl Hanser Verlag zum Beispiel. Suhrkamp bringt frische Frühjahrstitel zunächst nur als E-Book heraus. Andere verschieben Neuerscheinungen ins nächste Quartal oder gleich in das nächste Jahr. Uwe Tellkamp muss es geahnt haben. Da staut sich was an. Eine unglaubliche Buchwelle wird die Leserschaft im Herbst überrollen mit Titeln wie „Der kleine Corona-Therapeut“, „Die Welt nach Corona“, „Die Corona-Affäre“, „Coronavirus – Senioren Spezial“, „In Zeiten der Ansteckung“, „Es war einmal ein Virus“ oder „Die Klopapierkrise“ (in jeder Schreibweise). Für den nächsten Welttag des Buches empfiehlt sich ein Band, den der Droemer Verlag plant. Der Titel: „Wenn das alles erstmal vorbei ist“.
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