Von Ralf Hickethier
Es ist geistig verrückt, im direkten Sinne dieses Wortes, dass weltoffene, fortschrittliche Menschen, insbesondere hier in Deutschland, nicht begreifen können oder wollen: Eine Gemeinschaft, zum Beispiel auch die europäische, kann nur so gut sein, wie ihre einzelnen Mitglieder selbstbewusst und mutig zu sich stehen und ihr Eigenes, von sich selbst ausgehend, in das Ganze einbringen. Nur dann können die Rückmeldungen und Rückwirkungen der anderen positiv aufgenommen werden und sowohl der eigenen Weiterentwicklung dienen wie auch der des Ganzen. Mitglieder einer Gemeinschaft, Persönlichkeiten oder auch Nationen, müssen also zuerst ihr Eigenes haben und es kennen und es pflegen wollen, bevor sie der Gemeinschaft nutzen können.
Die Deutschen glauben, sie könnten gleich über sich hinausgehen, ohne bei sich selbst (gewesen) zu sein. Genauer: Die korrekten Streber ihrer kulturellen und politischen Eliten glauben das; sie wollen vom Sächsischen oder Thüringischen usw. am liebsten gleich zum Europäischen springen. Damit drehen sie die geschichtliche Entwicklung auf den Stand deutscher Kleinstaaterei zurück. Sie schaden so der (europäischen) Gemeinschaft, zu der sie gehören, sehr, weil sie ihr nur einen viel geringeren Anteil der vorhandenen nationalen Potenzen und Kompetenzen gönnen, als dies andere europäische Nationen tun.
Inter-Nationalismus, also die Beziehung zwischen Nationen, braucht zuerst ein Selbstbewusstsein der Nationen. Beziehungsfähig ist nur der, der eigene Konturen hat und haben will. Nur der, der sich selbst liebt, seine Kultur, seine Sprache, seine Mentalität, kann die anderen wirklich achten und – wenn er will – vielleicht sogar lieben. Tut er dies ohne Selbstliebe, will er sich aufgeben, andocken, im anderen aufgehen. Er gestaltet dann keine Beziehung mehr, denn dazu bräuchte es ja mindestens zwei eigene „Punkte“, die sie selbst bleiben wollen, die wissen, was das Besondere an ihnen ist, und die es auch wissen wollen und wertschätzen. Den anderen wertzuschätzen, ohne es mit sich selbst zu tun, ist das Honecker’sche Überholen ohne einzuholen. So kommen mir manche Dialekt-Deutsche, vor allem aus dem Westen, vor, die, ehe sie sich die Mühe machen, richtig Hochdeutsch zu lernen, lieber gleich zum Englischen übergehen.
Wollen wir Deutschen wieder einmal etwas Besseres sein, diesmal etwas Europäisches? Wollen wir das hässliche Deutsche hinter uns lassen und aufgehen in Europa? Die anderen Nationen werden es uns aber nicht gleichtun, denn sie wissen im Gegensatz zu uns ihre Nationalität zu schätzen. Und sie werden uns vermissen. Für mich ist es sehr fraglich, ob wir als sich abwickelnde Nation noch so viel für Europa tun können, wie dies eigentlich gut und gern möglich wäre. Ein stolzer, selbstbewusster Mensch ist für die anderen ja auch viel hilfreicher als ein verdruckster, in seiner persönlichen Identität verunsicherter. Nur Ersterer kann sich wirklich öffnen für die anderen, weil er aus dem Bewusstsein seiner ganzen persönlichen und familiären Geschichte – mit ihren Höhen und Tiefen – ein psychisches Gewicht gewinnen kann, das ihm einen festen Stand im Sturm des Lebens gibt.
Unser Verhältnis zu unserer Sprache ist symptomatisch für das, was ich meine. Gerade für unsere Nation müsste sie ganz wichtig sein, denn unser Land hat seinen Namen nach ihr: Deutschland (nicht Englischland). Wir sprechen aber lieber vom „Voting“ statt von der Abstimmung, von der „Preview“ statt von der Vorschau, von „Cashback“ statt von der Rücklage. Deutsch ist offenbar wirklich eine Sprache der Bauern und des Pöbels – da könnte ja jeder Deutschsprachige gleich verstehen, was gemeint ist, und dann auch noch mitreden. Wo kämen wir denn da hin? Doch nicht etwa zu mehr Demokratie? Und ich würde zum Beispiel auch mein Haus viel lieber von einem Hausmeister versorgen lassen als von einem „Facilitymanager“ oder „Caretaker“. Die Verleugnung der eigenen Muttersprache zugunsten der „Tantensprache“ Englisch hat zuweilen aber auch etwas erstaunlich Selbstkritisches: „Coffee to go“ – wer gibt sonst schon zu, dass sein Kaffee zum Weglaufen ist?
Nehmen wir die reinen Fakten: Im „Haus“ der EU ist die deutsche Familie die zahlreichste – 82 Millionen, deutlich dahinter kommt Frankreich mit 65 Millionen. Sie bezahlt mit weitem Abstand das meiste „Hausgeld“. Und wer hat all die wichtigen Posten in der „Hausgemeinschaftsleitung“? Nicht ein einziger Deutscher! Das liegt nicht an der Böswilligkeit der anderen, sondern daran, dass unsere eigene Regierung keine oder zu wenig eigene Kandidaten vorschlägt.
Das ist nicht die Hauptschuld der anderen, sondern Ergebnis einer westdeutschen „Kleinmannssucht“ – allerdings nur gegenüber den Kulturen aus dem Westen, die offenbar als etwas Höheres und Besseres galten als das dumpfbackige Deutsche. Wie hat Bertolt Brecht so schön in seiner „Kinderhymne“, dem Entwurf einer zukünftigen deutschen Nationalhymne, geschrieben: „Und nicht über und nicht unter andern Völkern wollen wir sein.“ Es gibt leider einflussreiche Deutsche, die ihre Nation nun zur Abwechslung unter anderen sehen wollen. Sich selbst als Einzelpersonen freilich nicht, denn sie maskieren sich gern, führen sich als Angehörige anderer Nationen auf, um den Makel des Deutschen abzustreifen.
Deutsch war ganz eindeutig eine bedeutende Weltsprache, erarbeitet durch wissenschaftliche, technische und kulturelle Leistungen vieler Generationen unserer Vorväter und -mütter. Die Nazis haben ihr einen harten Schlag verpasst, den Todesstoß keinesfalls. Das bleibt bedeutenden Teilen unserer Eliten vorbehalten. Goethes „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“, sagt ihnen nichts – ist ja schließlich auch nicht international und weltoffen englisch formuliert, sondern nur im dumpfen Deutsch. Sie sind stattdessen dabei, das Werk der Nazis zu vollenden und das Ansehen und die Weltgeltung des Deutschen endgültig zu verschleudern, etwas, was Generationen vor ihnen mühsam für ihre Nation erarbeitet hatten.
Deutsch lag vor einigen Jahren noch an vierter Stelle der weltweit gelernten Fremdsprachen. Jetzt wird es immer weniger gelernt, obwohl Deutschland seine Stellung als Wirtschaftsmacht in der Welt (4. Stelle) und in Europa (1. Stelle) und als Exportwelt- bzw. -vizeweltmeister behaupten konnte und kann. Deutschland allein exportiert mehr als die USA! Aber warum sollten Ausländer auch noch Deutsch lernen, wenn die deutschen Eliten selbst immer mehr Englisch reden? Aufgeregt schnipsen sie mit den Fingern: Ich weiß was, ich kann was, ich kann Englisch! In den Vorständen der großen deutschen Unternehmen wird Englisch geredet. Das würden z.B. die Franzosen niemals machen, obwohl sie mit ihrer Wirtschaftskraft und ihrer Bevölkerungszahl hinter uns liegen. Die Deutschen reden stattdessen lieber mit verstellter Stimme, vielleicht gar wie ein Wolf, der Kreide gefressen hat? Ob das das Vertrauen anderer in „die Deutschen“ erhöht? Oder müssen sie sich nicht besorgt fragen: Wer so schnell und gern bereit ist, das Eigene zu verraten, wie wird der dann mit dem Europäischen umgehen, wenn asiatische oder arabische Mächte in der Welt immer mehr an Bedeutung gewinnen?
Es geht nicht nur darum, all die vielen kleinen Sprachen zu erhalten, sondern auch kulturelle und wissenschaftliche Gegengewichte zur Dominanz des US-Amerikanischen in Europa und der Welt zu haben. Die Russen haben recht: Unsere Welt ist eine multipolare, keine monopolare mit einer einzigen Kultur- und Wissenschafts-Weltsprache. Das hätten die Eine-Welt-Avantgardisten und ihre beflissenen deutschen Vasallen gern, aber Franzosen, Spanier und Russen bestehen sowieso auf ihrer Sprache, wie das mehr und mehr auch die Chinesen tun. Auch wir sollten aufhören, als Nation unbedingt eine Englisch sprechende Kreuzung bzw. Durchschnittsbildung europäischer Kulturen sein zu wollen. Gemeinschaften leben von den ausgeprägten Eigenarten der „Typen“, die zu ihnen gehören. Das gilt auch und gerade für eine große Kulturnation wie die Deutsche.