Warum die AfD in der Oberlausitz stark ist

Ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD prognostizieren Umfragen für die Landtagswahl in Sachsen. Für den Soziologie-Professor Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz kommt das nicht überraschend. Im Interview erklärt er, warum die AfD in der Oberlausitz so viele Stimmen holt. Und was er Michael Kretschmer raten würde.
Herr Kollmorgen, bringt Wahlkampf die schlimmsten Seiten im Menschen zum Vorschein? Man hat beim Blick in die Kommentarspalten der sozialen Medien manchmal den Eindruck.
Ich glaube nicht, dass das eine richtige Beobachtung ist. Wenn man sich in Kneipen in den 80er- oder auch 90er-Jahren aufgehalten hat und dort angefangen wurde, Tacheles zu reden, dann unterscheidet sich das von dem, was wir heute in sozialen Netzwerken lesen, nicht gravierend. Durch die sozialen Medien finden wir eine stärkere Präsenz solcher Diskurse und enthemmten Meinungsäußerungen.
Sie haben etwas beschleunigt und gestärkt, was aber grundsätzlich schon früher vorhanden war. Allerdings legen kommunikationswissenschaftliche Untersuchungen nahe, dass man in den virtuellen Filterblasen schneller Gleichgesinnte trifft, die einen voll und ganz unterstützen. Man fühlt sich dadurch unangreifbar, schließt sich gedanklich und sozial ab und glaubt, dass das die einzig sinnvolle Position sei. Demgegenüber kann man in der realen Welt eher und deutlicher Distanz und Widerstand erfahren.
Bundesweit hat die AfD bei den Europawahlen weniger Stimmen erhalten, als vorab angenommen und befürchtet. Dagegen kam etwa in Neschwitz die AfD sogar auf 45 Prozent. Warum ist der Osten so anfällig für die AfD?
Ich sehe vor allem drei Gründe. Der eine ist, dass die DDR-Gesellschaft dramatisch überpolitisiert war. Alles musste sich der politischen Herrschaftslogik beugen. Zugleich aber war die DDR-Gesellschaft unterpolitisiert.
Eine Politik, wie wir sie heute aus freien Gesellschaften kennen, das heißt, dass nicht alles durch eine Einheitspartei bestimmt wird, dass es eine plurale Parteienstruktur gibt, eine autonome Öffentlichkeit, freie zivilgesellschaftliche Organisationen, genau das gab es in sozialistischen Gesellschaften nicht. Das ist aber der Kern demokratischer Politik. Dieser paradoxe Umstand ragt bis in unsere Gegenwart hinein und hat bei vielen Ostdeutschen mit DDR-Erfahrung zu einem folgenreichen Missverständnis des demokratischen Prozesses geführt.
Zugespitzt formuliert, sehen diese Menschen unser politisches System so: Wir geben alle paar Jahre frei und geheim unsere Stimme ab, wobei ich unter deutlich verschiedenen Kandidaten und Parteien wählen kann. Die Gewählten bekommen meine Stimme auf Zeit und bedienen jetzt bitte exakt meine Interessen und Vorstellungen. Nach ein paar Jahren schaue ich mir an: Ist jetzt das rausgekommen, was ich wollte? Wenn nicht, ist jemand anderes dran.
Besteht denn dieses Missverständnis tatsächlich bis heute - 30 Jahre nach der Wende?
Es bestimmt auch heute noch, gerade bei den Älteren, die Orientierungen. Der politische Populismus lebt davon, dass Menschen sich zusammenfinden zu einem wohl definierten Volk, das seine Führer auffordert, jetzt endlich konsequent Politik für sie zu machen, am besten ohne komplizierte politische Verhandlungen, Kompromissbildungen und bürokratische Regulierungen. Das alles gilt als überflüssig und politisches Gift oder Hinterzimmerpolitik.
Aber zur Wendezeit gab es viele, die für ein demokratisches System gekämpft haben, die sehr wohl informiert waren.
Es gab in der Zeit der Friedlichen Revolution viele Oppositionelle, die stark an demokratischer Partizipation in Bürgerbewegungen oder in den neu gegründeten Parteien, also an der Input-Dimension, interessiert waren und sich dort engagierten. Das verweist auf Punkt zwei, die Vereinigungspolitik. Gerade in den ersten Jahren ist sie vor allem von der politischen Exekutive bestimmt worden, also von Bundeskanzler Helmut Kohl und seinem engsten Partei- und Regierungsapparat.
Dadurch wurden diejenigen Bürger, die sich weiter politisch beteiligen und mitbestimmen wollten, systematisch enttäuscht. Sie gewannen in den 1990er-Jahren den nicht unberechtigten Eindruck: Es ist ziemlich egal, was wir hier vor Ort beraten und entscheiden, was wir wieder und wieder als nötige Veränderungen nach oben artikulieren. Die in der Regierung und bei der Treuhand machen eh, was sie wollen.
Gibt es Punkte, die speziell in der Oberlausitz eine Rolle spielen?
Die periphere Lage. Das ist der dritte Punkt, der die beiden ersten verstärkt. Man fühlt sich abgehängt: Die Bevölkerung schrumpft, die qualifizierten jungen Menschen wandern in die Metropolen ab.
Im Vergleich mit den prosperierenden Zentren gibt es kaum neue Wirtschaftsansiedlungen, die Löhne sind eher niedrig. Dazu kommen die bekannten Probleme der offenen Grenze. Die daraus resultierende Wohlstands- und Anerkennungsenttäuschung im Osten verstärkt die Wirkungen der ersten beiden Gründe. Und die AfD, so ließe sich zynisch formulieren, trägt zu dieser Stimmung das perfekte Politikangebot vor: Sie ist die neue Protestpartei. Sie hat das entsprechende Selbstbild entwickelt und sie bedient all diese Schablonen wie ‚Das Establishment gehört abgesägt‘ oder ‚Wir brauchen ein zweites Revolutionsjahr ´89‘. Die Wahrnehmung, die in der breiten Öffentlichkeit zirkuliert, ist: Die AfD hat der Regierung Kontra gegeben, die lassen sich nicht mit Gerede und Versprechungen abspeisen und wollen vieles ganz anders machen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass der größte Teil der AfD-Wähler nicht die geringste Ahnung hat, was im Parteiprogramm steht. Für diese Wählergruppe reicht es aus, dass die AfD als Gegner des Establishments auftritt und als solcher vom Establishment angesehen wird.
In einem anderen Interview hatten Sie gesagt, dass die AfD hier so hoch ausschlägt, weil viele Ältere in der Region leben, die Hauptwählergruppe der AfD.
Ja, es sind tendenziell Ältere, die AfD wählen. Und wir leben in einem Landkreis mit einem der bundesweit höchsten Altersdurchschnitte. Die AfD wird darüber hinaus gerade von Menschen gewählt, die in unsicheren Wirtschafts- und Sozialverhältnissen leben, von Menschen mit eher geringem Einkommen und mittlerer Bildung.
Sie wird überproportional von Männern unterstützt und von Menschen mit Zukunftsängsten. Diese Gruppen finden sich in Ostsachsen mehr als in den ostdeutschen Metropolen oder westdeutschen Industriezentren.
Hat Michael Kretschmer eine Chance gegen die AfD zur Landtagswahl im September?
Ich denke nicht, dass sich die Gewichte bis zum 1. September wesentlich verschieben werden. Das heißt, dass es sicher ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben wird zwischen CDU und AfD, wodurch das Abschneiden der dahinterliegenden Parteien eine signifikante Rolle spielt. Sie können das Zünglein an der Waage sein, weil sie darüber entscheiden, ob es überhaupt eine arbeitsfähige Koalition geben kann – und welche.
Ich gehe davon aus, dass sich das Gesamtbild nicht mehr verändern wird, es sei denn, eine der Parteien würde sich in den kommenden Wochen öffentlich selbst zerlegen oder einen großen Skandal produzieren. Ich ahne aber, dass die AfD-Anhängerschaft auch gegenüber einem Skandal relativ immun ist. Die Unterstützer werden selbst dann noch rufen: Aber die sind immer noch die Einzigen, die wirklich gegen das Establishment kämpfen.
Die AfD wird nicht als Saubermann gewählt, obwohl viele das glauben, sondern als Protestpartei. Zwar kann man aus der Geschichte lernen, dass die meisten stark populistischen Protestparteien früher oder später wieder in der Versenkung verschwinden. Aber derzeit sehe ich das in Ostsachsen für die AfD nicht. Die Grünen könnten über den Sommer noch profitieren, falls angesichts von Hitze und Dürre das Thema Klimawandel weiter an Aufmerksamkeit gewinnt. Aber gerade weil die Wähler heute sehr beweglich sind und sich spät entscheiden, wen sie wählen, kommt es auf die dann jeweilige konkrete Situation und mögliche öffentliche Stimmungsumschwünge an.
