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Warum glauben Menschen an Verschwörungen?

In der Corona-Krise rollt die nächste Welle des Populismus über das Land. Aber warum? Ein Gastbeitrag aus der Reihe "Perspektiven".

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Wir leben in keiner Demokratie, sondern in einer Diktatur - das jedenfalls glaubt dieser Demo-Teilnehmer in Stuttgart.
Wir leben in keiner Demokratie, sondern in einer Diktatur - das jedenfalls glaubt dieser Demo-Teilnehmer in Stuttgart. © dpa

Von Gustav Horn

Es geht schon wieder los. Kaum gibt es erste Anzeichen für ein Abklingen der Corona-Krise, geistern die wildesten Erzählungen virtuell durch das Netz und analog auf Demonstrationen in zahlreichen Städten. In all ihrer Verschiedenheit ist den Protestlern gemeinsam, dass sie hinter der ohnehin gravierenden Pandemie noch weitaus Gravierenderes vermuten. Die dauerhafte Einschränkung von Grundrechten und eine massive Verkaufsförderung von Impfstoffen gehören dazu. Auch gehört dazu, dass klare Schuldzuweisungen getroffen werden. Es sind wieder einmal „die Politiker“, die diese sinistren Vorhaben planen, entweder, um ihre Macht zu vergrößern, oder, um sich die finanzielle Unterstützung großer Geldgeber von Bill Gates bis George Soros zu sichern.

All dies kommt einem bekannt vor, nur mit anderen Themen. Vor gut zehn Jahren war es die Krise des Euroraums und vor fünf Jahren der Zustrom von Flüchtlingen, die ähnliche krude Spekulationen über den Transfer von ungeheuren Geldmengen in die europäischen Südländer oder gar den kompletten Bevölkerungsaustausch hervorriefen. Als Schuldige wurden im Übrigen die gleichen Politiker und die gleichen Finanziers identifiziert.

Wir sollten uns nichts vormachen, die nächste Welle des Populismus rollt über das Land. Das ruft umso drängender die Frage nach dem Warum hervor. Warum lassen sich vernunftbegabte Menschen auf solch inhaltliche und politische Irrwege locken? Wohlgemerkt, es geht dabei nicht um eine immer notwendige kritische Diskussion von Maßnahmen in diesen Krisensituationen, sondern um die Abkehr von Vernunft und Logik in solchen Debatten, in denen emotionale Befindlichkeiten bis hin zum Hass dominieren und wissenschaftliche Erkenntnisse in all ihrer zwangsläufigen Vorläufigkeit grundsätzlich bezweifelt werden.

© dpa

Die grundlegende Antwort lautet: Angst. Bei aller sonstigen Unterschiedlichkeit eint die Populisten dieses Grundgefühl, wie zahlreiche Umfragen zeigen. Das mag auf den ersten Blick angesichts der bedrohlichen Krisen sogar verständlich sein. Nicht völlig zu Unrecht sehen viele in diesen Umwälzungen auch Gefahren. Sowohl die Krise des Euroraums als auch die derzeitige Pandemie bedrohten oder bedrohen tatsächlich den wirtschaftlichen Wohlstand und führten bei Letzterer zu einer temporären Einschränkung von Grundrechten.

Es war zudem verständlich, dass ein so massiver Zustrom von Flüchtlingen wie 2015 Sorgen um Sicherheit und kulturelle Identität auslöste. Aber warum enden diese nachvollziehbaren Sorgen in politischer Radikalisierung, Ausgrenzung und blankem Hass? Warum begegnet man den zweifellos großen Herausforderungen nicht mit einem gewissen Maß an Zuversicht? Zumal Deutschland die Krisen am Ende bislang relativ gut bewältigt hat. 

Um zumindest die wirtschaftspolitischen Gründe hierfür zu verstehen, muss man länger zurückblicken. Schon in den siebziger Jahren trafen zwei Strömungen aufeinander, die sich für den politischen Diskurs in unserem Land immer noch als sehr wirkmächtig erweisen. Das eine ist die allmähliche Auflösung sozialer und politischer Milieus, die zu einer spürbar abnehmenden Bindung an die verschiedenen Parteien geführt hat. Das zeigt sich in im Vergleich zu früheren Zeiten dramatischen und schnellen Veränderungen bei Wahlergebnissen und Umfragen. Alle Parteien können sich ihrer Wähler immer weniger sicher sein.

Zugleich gewann mit dem Neoliberalismus eine wirtschaftspolitische Strömung an Kraft, die Wirtschaftspolitik beziehungsweise wirtschaftspolitische Interventionen des Staates sehr kritisch sieht. Sie unterstellt Politikern und Beamten Motive wie die eigene Wiederwahl zu sichern oder seinen Status zu verbessern. Das kann wirtschaftlich zu Folgen wie hoher Inflation, hoher Staatsverschuldung und von überregulierten Märkten erzeugter Arbeitslosigkeit führen. Diese Phänomene waren in dieser Zeit tatsächlich in vielen westlichen Volkswirtschaften zu beobachten. Daher ist es wenig verwunderlich, wenn der Neoliberalismus im Laufe der Jahre immer mehr an Zustimmung gewann.

Seine Vertreter propagierten möglichst wenig regulierte Märkte und mehr Eigenverantwortung des Einzelnen, durch die mehr Freiheit und mehr Wohlstand erzeugt werden sollten. Ronald Reagan und Margret Thatcher waren die politischen Protagonisten dieser Richtung. Aber im Laufe der Zeit verbreitete sich diese Grundströmung zumindest in Teilen auch auf linkere Parteien. Toni Blair für Labour und Gerhard Schröder für die SPD sind die Protagonisten dieser Anpassung. Im Ergebnis führte dies dazu, dass im Laufe der Jahrzehnte insbesondere die Finanzmärkte und die Arbeitsmärkte tatsächlich mehr und mehr dereguliert wurden.

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Die Ergebnisse sind nicht nur ernüchternd, sondern beängstigend. Nicht nur erwies sich, wie die Finanzmarktkrise zeigte, das Vertrauen in die Stabilität unregulierter Märkte als verfehlt, sondern es ging auch etwas sehr Wichtiges für unsere Gesellschaft verloren. Das Vertrauen in die Schutzbereitschaft des Staates hat massiv gelitten. Das zeigt sich in vielen Bereichen: nicht nur, aber auch wirtschaftlich. 

Die Betonung der Eigenverantwortung gegenüber sozialen Risiken wie Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit, die sich in restriktiveren Sozialsystemen niederschlägt, verunsichert. Ebenso die vor der Corona-Krise immer wieder betonte Knappheit öffentlicher Mittel, die sich primär auf kommunaler Ebene in einem stetigen Verfall der öffentlichen Daseinsvorsorge niederschlägt. Die gewachsene Ungleichheit bei Löhnen und Vermögen lässt viele an Fairness in unserer Gesellschaft zweifeln.

All dies erzeugt bei vielen Angst, und macht sie anfällig für die allzu einfachen Konzepte von politischen Scharlatanen. Es macht sie auch anfällig für simple und kalkulierte Schuldzuweisungen an Ausländer und sonstige geeignet erscheinende Sündenböcke. Um diese Spirale der Angst und der politischen Verwahrlosung zu durchbrechen, ist ein Gegensteuern auf mehreren Ebenen notwendig.

Es beginnt auf der kommunalen Ebene, denn hier ist Politik sehr unmittelbar erfahrbar. Wir brauchen eine entschlossene politische Renaissance des Lokalen. Dazu muss aber der Handlungsspielraum der Kommunalpolitik wieder ausgeweitet werden. Dies gilt finanziell, aber auch rechtlich. Finanziell müssen die meisten Kommunen wieder auf eine solide Basis gestellt werden, sodass sie ohne aufwendige Projektanträge und ohne an der kurzen Leine der Kommunalaufsicht zu hängen ihre Vorstellungen umsetzen können.

Der enge Spielraum hat aber auch eine rechtliche Dimension. Die Einspruchsmöglichkeiten gegen kommunale Entscheidungen haben überhandgenommen. Was vielfach als Partizipation und übergeordnete Planung gut gemeint war, hat mittlerweile die parlamentarische Demokratie vor Ort geschwächt. Es erzeugt Politikverdruss, wenn gewählte Kommunalpolitiker immer wieder erklären müssen, es sei kein Geld da oder man habe bindende Einsprüche. Hier müssen deutlich effizientere Wege der Teilhabe gefunden werden.

Die EU muss die Menschen wieder begeistern

Neben der Renaissance des Kommunalen müssen wir aber auch fast das Gegenteil anstreben. Nicht zuletzt unsere gegenwärtige Krise hat gezeigt, sondern es deutete sich schon vorher an, die Globalisierung, wie wir sie kennen, ist nicht mehr tragfähig. Nicht nur werden uns gerade jetzt die Unsicherheiten und versteckten Kosten der Globalisierung bewusst, sondern wir sehen auch, dass anstelle einer nahezu schrankenlosen Verlagerung von Produktion und Handel der Interessenskampf der Handelsblöcke getreten ist. Das betrifft auch unseren Wohlstand, der zu einem erheblichen Teil auf den Weltmärkten erwirtschaftet wird. Wer faire und sichere Handelsbedingungen will, sollte dafür sein, die EU zu stärken. Nur diese verfügt über genügend Gewicht, um dies in diesem globalen Machtkampf durchzusetzen.

Aber dies muss eine andere EU sein, als wir sie derzeit haben, demokratischer und sozialer, um die Menschen wieder mitzunehmen und sie für Europa zu begeistern. Die Regierungen werden dieses andere Europa kaum schaffen. Hier ist eine europäische Zivilgesellschaft gefordert, die sich die Reform der EU zu eigen macht.

Die Wellen des Populismus können also gebrochen werden. Voraussetzung ist jedoch, dass es gelingt, dessen Anhänger wieder ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln und ihnen die Angst vor Veränderung und Wandel zu nehmen. Das aber verlangt ein entschiedenes Gegensteuern gegen eingeschliffene Politikmuster.

Unser Autor:

© privat

Gustav Horn (65) ist Professor für Volkswirtschaft an der Universität Duisburg-Essen und war bis 2019 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung. Jetzt erschien von ihm das Buch „Gegensteuern – Für eine neue Wirtschaftspolitik gegen Rechts“ (Verlag Ch. Links, 240 S., 20 €)

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen.

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