Warum haben wir so viele Vorurteile?

Bill Gates wolle alle Menschen impfen und ihnen dabei Mikrochips einsetzen lassen, 5G-Mobilfunknetze würden Covid-19 übertragen, Aluhüte jedoch gegen elektromagnetische Strahlung schützen: Unter den rund 40.000 Menschen, die am Samstag in Berlin gegen die Corona-Schutzmaßnahmen demonstrierten, waren etliche Verschwörungstheoretiker. Viele von ihnen zweifeln die Existenz des Virus an. Andere sehen ein Ablenkungsmanöver der Politik darin, um Bürgerrechte zu beschneiden und die Polizeipräsenz zu erhöhen. Warum scheinbar immer mehr Menschen an solche Theorien glauben und ob es sich lohnt, mit ihnen zu diskutieren, hat die SZ Professor Frank Asbrock gefragt. Der Sozialpsychologe unterrichtet und forscht an der TU Chemnitz.
Herr Professor Asbrock, seit Beginn der Corona-Krise werden viele Verschwörungstheorien verbreitet. Warum hat das eine solche Dynamik bekommen?
Wir Menschen im Allgemeinen neigen dazu, uns Unerklärliches erklärbar zu machen, denn wir können es nicht gut ertragen. Manche neigen dazu aber mehr als andere. Das sind diejenigen, die anfälliger für Verschwörungstheorien sind. Wenn solche Dinge, wie die Pandemie, passieren und Regierungen in so einer unglaublichen Geschwindigkeit solch einschneidende Maßnahmen dagegen aufnehmen, dann sind Erklärungen attraktiv, dass das irgendwie gesteuert sein muss.
Warum?
Durch diese Maßnahmen fühlen sich einige Menschen bedroht. Ein gewisser Zweifel gegenüber den handelnden Organen in einem Staat ist ja gut. Völliges Vertrauen wäre naiv. Aber es gibt Menschen, die sind extrem misstrauisch. Für sie ist es schwer zu ertragen, dass das einfach so passiert, dass es eine Krankheit ist. Das Problem ist, dass Regierungen nicht immer alle Entscheidungen kommunizieren. Für Menschen, die Verschwörungstheorien verbreiten, ist es dann einfach, an diesem Punkt anzusetzen und zu sagen: Da muss irgendwas dahinter stecken. Das war beim Kennedy-Attentat so, beim Tod von Lady Diana, bei der Mondlandung auch. Bei Leuten, die ohnehin schon immer kritisch waren, zum Beispiel Impfgegner, fallen solche Ideen auf fruchtbaren Boden. Zehn Prozent der Bevölkerung halten die Schutzmaßnahmen für übertrieben. Das ist ein relativ kleiner Teil, aber der ist auffällig und aktiv. Verschwörungstheorien waren lange etwas, das man belächeln konnte. Aber sie haben sich schon immer vermischt mit extremistischen Einstellungen. Das macht es so gefährlich, wie wir an Berlin gesehen haben.
Theorien basieren auf Fakten. Führt der Begriff Verschwörungstheorie damit nicht in die Irre?
Ja, deshalb ist es auch gut, von Verschwörungserzählung zu sprechen. Das Wort „Verschwörungstheorie“ unterstellt, dass es eine wissenschaftliche Fundierung gebe. Aber das ist überhaupt nicht so.
Wie kann ich mit einem Anhänger dieser Ideen reden? Ist er für rationale Argumente überhaupt noch zugänglich?
Wenn man im Bekannten- oder Familienkreis Menschen hat, die diesen Ideen aufsitzen, dann finde ich es sinnvoll, mit ihnen zu sprechen und zu fragen: Wieso glaubst du das? Was sind deine Quellen? Wo kommt das her? Dann muss man versuchen, Gegenargumente zu bringen. In der Regel hört man dann oft, dass faktische Quellen gleichgeschaltet wären. Trotzdem ist das eine richtige Handlung, an den Leuten dran zu bleiben, wenn sie einem nahe stehen, und ihnen zu sagen: Ich teile deine Meinung nicht. Ich habe Hinweise, dass es anders ist – und ihre Argumente zu hinterfragen. Dinge zu hinterfragen ist ja auch etwas, was die Anhänger selbst immer behaupten. Auch wenn sie es nicht tun.

Nun kann man ja nicht jedem Corona-Demonstranten rechtes Gedankengut unterstellen.
Unsere Gesellschaft polarisiert stark. Eine gemäßigte Bewegung fehlt. Das ist das Problem. Es gibt keine Corona-Demonstration, die nicht mit rechten Kräften zusammen ist. Es ist völlig legitim, die Maßnahmen nicht gut zu finden. Jeder hat das Recht, dagegen zu demonstrieren. Aber es wird problematisch, wenn man mit Leuten zusammenläuft, die den Staat ablehnen. Ich finde es besorgniserregend, wenn die Berührungsängste zu Rechtsextremen abnehmen. Und dass Rechtsextreme, die so offen den Staat verachten, so ein Forum bekommen. Dass sie das Gefühl erhalten, eine große Gruppe zu sein. Das führt dazu, dass sie selbstbewusster auftreten und sich mehr Leute angeregt fühlen, auf die Straße zu gehen. Dagegen muss die Zivilgesellschaft massiv angehen. Eine Bannmeile um den Bundestag reicht nicht. Meiner Ansicht nach hat es nicht normal zu sein, dass Menschen mit Reichsflaggen herumlaufen und die Abschaffung des Staates fordern – und dass das keine Konsequenzen hat.
Bei manchen Verschwörungsmythen geht es gegen Juden oder Amerikaner. Werden da alte Vorurteile aufgewärmt?
Das hängt miteinander zusammen. Menschen mit Verschwörungsmentalität, die sagen, dass Regierungen geheime Dinge tun und nicht über alles informieren, tendieren auch eher zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und zu Vorurteilen, die eine Kontrolle von mächtigen Gruppen unterstellen. Das ist ein empirischer Fakt. Das zeigen verschiedene Studien. Wir wissen, dass Menschen mit stärker ausgeprägter Verschwörungsmentalität auch stärker zu Gewalt neigen und antisemitischen und antiamerikanischen Ideen zustimmen.
Aber ganz frei von Vorurteilen sind wir doch alle nicht, oder?
Ich würde eher sagen, dass wir alle Stereotype haben. Das ist ein kognitiver Anteil des Vorurteils, ein generalisierendes Bild von einer Gruppe. Also zum Beispiel: Frauen können nicht einparken, Radfahrer sind Rüpel, wer eine andere Hautfarbe hat, kann kein Deutsch. Vorurteile gehen weiter. Sie sind in der Regel negative Einstellungen gegen Gruppen, die emotional sehr aufgeladen sind. Man lehnt ab, man hasst. Die Vorurteile haben viel damit zu tun, dass wir uns von Fremdgruppen, die nicht zu unserer Gruppe gehören, abgrenzen.
Warum sortieren wir die Welt in solche Kategorien ein?
Das hat einen psychologischen Sinn. Wir haben äußerst begrenzte kognitive Kapazitäten und können uns nur eine bestimmte Anzahl von Dingen merken und wahrnehmen. So, wie wir lernen, wie Gegenstände aufgebaut sind und sich voneinander unterscheiden, lernen wir auch, wie sich Menschen in Alt und Jung, männlich, weiblich und andere Geschlechter und in verschiedene ethnische Gruppen unterscheiden. Das nehmen wir sehr schnell wahr. Wir neigen dazu, mit diesen Merkmalen bestimmte Eigenschaften zu verbinden. Das führt dazu, dass wir Personen, die wir neu kennenlernen, in ein Raster einordnen können. Kognitiv ist das total praktisch. Das machen wir ständig mit allen möglichen Dingen: Ein Stuhl ist zum Sitzen da, eine Tasse, um etwas daraus zu trinken.
Also ist das Hirn faul und die Stereotype helfen uns, seine Arbeit zu optimieren?
Ja, genau. Wir lernen, wie wir uns an bestimmten Orten verhalten, wie die Abläufe da sind. Wir wissen, was wir tun, wenn wir zum Beispiel in ein Restaurant gehen. Stereotype generalisieren immer. Deshalb werden sie den Individuen innerhalb einer Gruppe ja auch nicht gerecht.
Wie kann man sie denn loswerden?
Man muss keine Vorurteile haben. Wir sind keine Opfer unserer kognitiven Fähigkeiten, sondern können dagegen angehen. Aber das ist anstrengend. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten: Man kann lernen, sich informieren, ob etwas tatsächlich stimmt. Wer sich weiterbildet und Verschiedenheit kennenlernt, weiß, dass Schwarze keinen geringeren IQ haben als Weiße oder dass Frauen nicht schlechter Auto fahren als Männer. Positiver Kontakt hilft dabei, Vorurteile abzubauen. Das generalisiert dann auf andere, die zu dieser Gruppe gehören. Menschen, die offener sind, haben auch weniger Vorurteile.
Das Gespräch führte Susanne Plecher.