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„Ich war Stasi-IM. Ich bin mit mir im Reinen.“

Hier erzählt ein ehemaliger MfS-Offizier, wie er zur Firma kam und wie er inzwischen damit umgeht. Ein ehrliches, offenes und überraschendes Bekenntnis.

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„Viele Menschen nennen solche Biografien wie meine ja gerne ,wendungsreich‘“, sagt Bernd Roth. Er selber findet seine Geschichte bis 1989 „absolut gradlinig".
„Viele Menschen nennen solche Biografien wie meine ja gerne ,wendungsreich‘“, sagt Bernd Roth. Er selber findet seine Geschichte bis 1989 „absolut gradlinig". © kairospress

Es ist noch gar nicht lange her, da hat mich ein Lehrer aus Leipzig eingeladen. Ich sollte in seine zehnte Klasse kommen, und die Schüler durften mich fragen, was sie wollten. Das ist super gelaufen. Die haben mir Löcher in den Bauch gefragt. Am Ende hatten wir sogar so etwas wie ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Aber wissen Sie, wie einige Eltern reagiert haben? Die waren entsetzt: „Wie kann das sein, dass so ein Typ an die Schule kommen darf?“ So ein Typ – damit meinten sie: so ein Ex-Stasi-Offizier wie ich. So ein Täter eben. Natürlich hat es keine weitere Veranstaltung gegeben.

Klar hat mich das enttäuscht. Weil es ungerecht ist. Ich bin immer schon ein Gerechtigkeitsfanatiker gewesen. Und an vielen Ungerechtigkeiten ist schlichtweg Unwissen schuld. Ich bekenne mich ja zu meiner Vergangenheit. Ich will mich äußern und mit Opfern ins Gespräch kommen. Wenn ich oder jemand wie ich ihnen wehgetan hat und sie darunter gelitten haben, wir aber nie darüber reden, werden diese Dinge, wird auch ihr Leiden daran garantiert nie enden.

Ich selber kann sagen: Ich bin mit meinem Leben im Reinen. Ich bin groß geworden in einer Familie von Kommunisten, für die ihre Erfahrungen in der Nazizeit prägend waren, zusammen mit dem, was sich danach in der DDR und vor allem in der BRD mit deren Nazi-Altlasten entwickelte. Insofern war mein Weg ein Vermächtnis. In der DDR haben meine Großeltern zum ersten Mal überhaupt ein nicht bedrohtes Leben führen dürfen. Da war natürlich auch ich links. Sonst hätte ich mich ja emotional von meinem Elternhaus entfernen müssen. Aber ich hatte keinen Grund dazu.

Ich bin in Unterwellenborn aufgewachsen, in einer Familie von Arbeitern und Habenichtsen. Meine Mutter und mein Vater waren beide im Dienstbetrieb und mit ihrer Elternrolle leider überfordert. Bei uns hatte meine Großmutter die Hosen an. Zu Hause wurde mir alles erlaubt: dass ich schon mit 14 Tanzen gegangen bin, dass ich mir mit 15 das Bier hinter die Binde gegossen habe, dass ich Westsender hören durfte, mir die Haare wachsen lassen durfte. Und ich habe mit den falschen Leuten rumgehangen. Deren Eltern hatten Gasthöfe, Bauernhöfe, Betriebe. Das war absolut nicht systemkonform. Meine Eltern hätten mir das eigentlich verbieten müssen. Aber sie sagten immer: Ach, der Junge macht schon sein Ding. So habe ich in der Schule den braven Pionier gespielt und war in meiner Freizeit ein Aufmüpfiger. Ich war ja eher so ein weicher, schwächlicher Typ. Da habe ich mich eben Leuten angeschlossen, die stark und selbstbewusst taten. Letztlich bin ich auch deshalb schon mit 16 zur Stasi gegangen.

Ich bin dem Mann von der Stasi heute noch dankbar

Da war ich aber überhaupt in einer schlechten Phase. Ich kam auf die neue Schule, eine EOS, da waren die Leistungsanforderungen ziemlich hoch. Früher war mir alles zugeflogen, und auf einmal wurde ich hundsmiserabel. Aber das war mir alles egal. Zu Hause lief es auch mies. Meine Großmutter wurde zunehmend dement, meine Mutter konnte sie nicht ersetzen und wurde fast panisch. Weil auch mit mir alles den Bach runterzugehen drohte. Da hat sie sich wohl in der Not an ihre alten Kontakte bei der Stasi erinnert, wo sie gearbeitet hatte.

Eines Tages hat meine Mutter mich jemandem vorgestellt, bei einem Kaderleiter. Da traf ich auf einen Herrn, und der hat gesagt: Hör mal Junge, es gibt bei uns in der DDR etwas, das nennt sich die Staatssicherheit. Die wollen den Frieden schützen. Wäre das nicht auch was für dich? Ja, das hat mich interessiert. Und der Mann hat mir das Gefühl gegeben, dass er mich aus der ganzen Scheiße rausbringen kann. Und dass ich trotzdem mein altes Leben weiterführen kann, mit langen Haaren, Beatmusik, mit den Kumpels. Das war für den alles in Ordnung.

Ich bin ihm heute noch dankbar. Er hat mich davor bewahrt, irgendwann richtig unterzugehen. Und er hat so eine Stärke ausgestrahlt. Stärke und Selbstbewusstsein. Alles das, was ich nicht hatte, und was ich so gerne haben wollte. So bin ich ein Jugend-IM geworden.

Viele nennen Biografien wie meine ja gerne „wendungsreich“. Ich finde meine Geschichte bis 1989 absolut gradlinig und, wenn man bedenkt, aus welcher Zeit und in was für einem Umfeld sie sich entwickelt hat, auch folgerichtig. Für mich passte es zu meinen humanistischen Idealen, mich in die Dienste eines Staates zu stellen, der sich offiziell für eine bessere, gerechtere und friedliche Gesellschaft stark macht. Auch weil ich immer schon ein Gerechtigkeitsfanatiker war. Doch am wichtigsten war für mich: Indem ich zur Stasi kam, war es mit meinen Ängsten vor dem Scheitern vorbei.

Dafür ist mein Leben von da an immer wieder auch ziemlich schizophren gewesen. Einerseits war ich überzeugter Sozialist und wollte mich für die DDR einsetzen. Andererseits hatte ich in dem anderen Lager, das ich als IM beobachten sollte, ja auch viele Freunde. Was habe ich gemacht? Ich habe selbst entschieden, wen von den Leuten ich verrate und wen nicht. Und ich habe niemals Freunde verraten. Bis auf das eine Mal, am Anfang, mit 16, als ich wie ein Prüfling am Tisch saß. Da haben sie gefragt, was denn der Eberhard so erzählen würde, wenn wir unter uns seien. Was er über den Westen denkt und so. Ich fühlte mich wie erschossen. Eberhard war mein bester Freund. Mein Intimfreund. Den sollte ich verraten? Aber ich wollte unbedingt zur Stasi. Und ich habe denen ja auch vertraut. Also habe ich alles erzählt.

Diesen Frust gab es überall - vor allem bei uns

Ich habe zwar kurz darauf erfahren, dass die Sache nur ein Test war, wie weit ich gehen würde. Trotzdem hat mich das jahrzehntelang belastet. Bis ich meinem Freund alles gebeichtet habe, das war erst 2014. Er hat kurz gestutzt, aber dann gegrinst. Eberhard war die einzige Leiche in meinem Keller. Jedenfalls die einzige, von der ich weiß. Ob Sie mir das glauben oder nicht: Mit allen, von denen ich weiß, dass sie von meinem Tun persönlich betroffen waren, habe ich auch gesprochen. Nun habe ich ja an eher gemäßigter Stelle gearbeitet, auf Linie XVIII, Abwehr Wirtschaft. Also nicht da, wo es knallhart gegen Oppositionelle ging. Klar habe auch ich meine Abschlüsse gehabt, wie wir das nannten. Aber es gab in meiner ganzen 16-jährigen hauptberuflichen Tätigkeit nur einen Menschen, den ich persönlich in den Knast gebracht habe, bevor er abgeschoben wurde. Und der war Wirtschaftsspion der CIA in Jena.

Auch als Hauptamtlicher ist mein Leben schizophren geblieben. Ich war schon seit 1968, seit der Schulzeit im 100-prozentig loyalen Singeklub Maxhütte. Da konnte man selbst solche Folk-, und Rockmusik machen, die offiziell verboten war. Natürlich haben wir auch kontrovers politisch diskutiert. Aber das ließen wir nicht nach außen. Ich war halt immer jemand, der Bestätigung gesucht hat, bei der Stasi genauso wie im Singeklub. Nur dass es im Klub die schöneren Mädels gab. Da war überhaupt immer High Life. Die wussten übrigens alle, dass ich bei der Firma war.

Als der Klub 1984 aufgelöst und ich versetzt wurde, weil wir bei einem Konzert trotz Verbot ein kritisches Lied gesungen haben, war das für mich eine Katastrophe. Da wollte ich alles hinschmeißen. In mir hatte sich schon seit Jahren Frust angestaut. Auch über die vielen Nieten und Pfeifen bei der Stasi. Und über die Genossen, die das Gesetz gebrochen haben. Davon gab es nämlich jede Menge. Aber vor allem, weil der Staat permanent dafür sorgte, dass nichts reformiert und verändert wurde. Diesen Frust gab es überall in der Stasi. Vor allem bei uns. Wir wussten ja besonders gut, wie bankrott und kaputt der Staat längst war, was für Schweinereien abliefen und dass die SED-Bonzen nichts dagegen taten. Ich bin trotzdem geblieben. Ich habe Dienst nach Vorschrift gemacht und bin sogar Major geworden. Wir hatten ja ein gutes Leben. 2.500 Mark Gehalt; damit konnte man in der DDR ziemlich kommod leben.

Als die Wende kam, habe ich eine große Erleichterung gefühlt. Aber auch Angst. Meine Existenz war weg, ich stand da mit Familie, aber ohne Job. Ich habe es erst mit Töpfern versucht, dann bin ich an einen Wessi geraten, der war bei einer großen Wirtschaftsauskunftei und Inkasso-Firma. Die kannte ich gut. Bei der hatten unsere West-IMs regelmäßig Auskünfte über Unternehmen in der BRD beschafft. Ich habe mich vorgestellt, habe auch gesagt, dass ich bei der Stasi war, aber das war denen völlig egal. Und so habe ich da angefangen. In einem totalen Wessi-Beruf. Das lief gut, bis ich schließlich merkte: Ich bin in genau so einem Laden gefangen wie die Stasi. In einem Zwangssystem, für das ich Auskünfte beschaffen muss. Da habe ich in den Sack gehauen. Und erst einmal in Saalfeld einen Hochseilgarten gebaut.

Ich will keine Reinwaschung

Da bekam ich auch viel zu tun mit Menschen, die psychische Probleme hatten. Für die war der Hochseilgarten Bestandteil ihrer Therapie. Für mich war er das irgendwie auch. Ich habe gefühlt, dass ich anderen helfen kann, mich dafür aber intensiv mit meiner eigenen Geschichte auseinandersetzen muss. Also habe ich sie aufgeschrieben. Letztlich ist ein Buch daraus geworden: „Berichte eines Stasi-Täters oder: Das Leben ist nur ein Gefühl“. Als ich gemerkt habe, dass meine Zeit mit dem Hochseilgarten vorbei ist, bin ich komplett ins Immobiliengeschäft gegangen, wo ich vorher schon tätig war. Das mache ich noch heute, aber nicht mehr in Vollzeit.

Ja, ich habe ein schönes Leben. Aber mein Gerechtigkeitssinn macht mir immer noch zu schaffen. Also das, was ihn anspringen lässt. Zum Beispiel das undifferenzierte Bild über die Stasi – als wenn alle dort Beschäftigten ausnahmslos schlimmsten Dreck am Stecken hätten! Und vor allem: Ich habe zwar Kontakt zu ehemaligen DDR-Oppositionellen und Bürgerrechtlern, die in der Aufarbeitung aktiv sind. Wir sind auch manchmal gemeinsam auf Veranstaltungen. Aber es kommen von ihrer Seite keine Impulse für Gespräche von Stasi-Opfern und Stasi-Tätern. Ich habe den Eindruck, dass für sie seit 30 Jahren im Grunde immer noch gilt: Menschen wie mir, die Teil des Unterdrückungsapparates gewesen sind, darf keine Bühne geboten werden.

Ich verstehe diese Leute ja: Sie können sich schlecht zum Fürsprecher von Opfern machen und Täter wie mich genauso behandeln. Aber ich will doch keine Reinwaschung. Und ich bin davon überzeugt: Ohne solche Gespräche wird es keine Versöhnung zwischen Opfern und Tätern geben. Ich habe mir dafür schon mal selbst eine Bühne organisiert und weiß: Das kann funktionieren. Mit vielen der Opfer aus der Gesprächsrunde habe ich heute noch Kontakt. Das hat uns allen sehr gut getan. Nur greift niemand diese Idee auf, die Opferverbände nicht, die Unterlagenbehörde nicht, die Gedenkstätten nicht, nicht mal die Kirche. Stattdessen gibt es seit 30 Jahren nur Ausgrenzung, Vermeidung und Pauschalurteile. Selbst die Opferstimmen werden ja inzwischen immer weniger, weil immer seltener mit Zeitzeugen gearbeitet wird. Ich nenne das skandalös.

Notiert von Oliver Reinhard

In der Reihe „Ich & Wir“ erzählen Menschen, wie sie die Brüche in der Gesellschaft erlebt haben und erleben.