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Was wir über Gewalt an Schulen wissen – und dagegen tun können

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Analysen und Interviews zu aktuellen Themen. Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht der Autoren und Gesprächspartner Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.Heute: Der Dresdner Bildungsforscher Wolfgang Melzer über Wahrnehmungen und sich hartnäckig haltende Klischees zu Gewalt an Schulen. Er nennt Ursachen und Lösungsansätze. Ein Text zur Versachlichung der Debatte.

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Von Wolfgang Melzer

Die hohe Besorgnis der Eltern, dass Aggression, Gewalt und Mobbing an Schulen die Entwicklung ihrer Kinder negativ beeinflussen könne, ist ein Ergebnis der Befragungen im Rahmen des in diesen Wochen veröffentlichten SZ-Schulnavigators. Auch hält sich landläufig seit Längerem die Meinung, dass sich das Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler stetig verschlechtert habe und Gewalt an Schulen kontinuierlich angestiegen sei. Ist das aber wirklich so?

Sicherlich stellen Gewalt, Mobbing und Ausgrenzung in der Schülerschaft ein nicht zu unterschätzendes Problem dar. Das liegt darin begründet, dass der Anteil der Sekundarschüler in den Rollen als „Opfer“, „Täter“ oder als „Beobachter“ und „Dulder“ nicht unerheblich ist und sich die Lehrerschaft mit dem Phänomen und seinen Folgen im Schulalltag auseinandersetzen muss. Die Zahlen und Fakten geben jedoch zu einer Dramatisierung keinen Anlass. Das folgende Resümee dazu vorliegender wissenschaftlicher Studien soll dazu beitragen, hartnäckige Klischees aufzulösen und die Debatte um die Gewalt in der Schule zu versachlichen.

Den Studien liegen unterschiedlich weite bzw. enge Definitionen des Gewaltbegriffs zugrunde, daher ist es zunächst angezeigt zu definieren, was man unter Gewalt und benachbarten Begriffen wie Aggression, Mobbing und Bullying versteht. Wenn man den gesellschaftlichen Hintergrund, die Ursachen und Folgen betonen will, empfiehlt sich die Verwendung des Gewaltbegriffes. Allerdings werden die Begriffe „Gewalt“ und „Aggression“ häufig synonym verwendet. „Mobbing“ schließt alle Formen der Gewalt ein und bezeichnet genau wie dieser Begriff eine dauerhafte und vorsätzliche Schädigung, wobei beim Mobbing ein Machtgefälle zwischen Täter und Opfer hinzukommt. Der internationale Sprachgebrauch für schulische Gewalt ist „Bullying“.

Generell ist zu konstatieren, dass ein weites Spektrum von Gewalt und Aggressionen an Schulen vorzufinden ist. Die am häufigsten praktizierten Formen sind verbale und psychische Aggressionen, hässliches Beschimpfen, Herabwürdigung aufgrund von Herkunft, Religion, Aussehen, aber auch durch vulgäre Kommentare oder „Lustigmachen“ über äußere Merkmale oder Verhaltensweisen. Das Bloßstellen und Drangsalieren geschieht teilweise auch mithilfe neuerer Kommunikationsmittel (“Cybermobbing“). Unter Gewalt oder Mobbing fällt auch das systematische Ausschließen aus dem Freundeskreis, das Ignorieren oder Gerüchteverbreiten. Physische Gewaltakte wie Herumschubsen, Treten oder Schlagen, werden von Schülern am ehesten als Gewalt empfunden, nehmen gegenüber den zuvor genannten aber eine weniger bedeutende Stellung im Gewaltgeschehen ein als landläufig angenommen.

Studien aus den letzten zwei Jahrzehnten, darunter unsere eigenen, die wir seit über 15 Jahren durchführen, geben weiteren Aufschluss: „Härtere“ Formen schulischer Gewalt – etwa die Anwendung von Waffen bzw. Erpressung oder schwere Prügelei kommen sehr selten vor. Auch gilt keineswegs die Annahme, einmal Opfer – immer Opfer, einmal Täter – immer Täter. Es besteht ein differenziertes Gefüge von Tätern und Opfern. Die Rollen sind nicht festgefügt und können sich ändern. Nur die Gruppe der „Nichtbeteiligten“ hat eine hohe Konstanz.

Hinsichtlich der Schulformen lassen sich Unterschiede in Bezug auf Belastungen durch Gewalt feststellen. So treten insbesondere körperliche Gewalt und Vandalismus eher im Hauptschulbildungsgang oder in Sonderschulen bestimmten Typs auf. Andererseits unterscheiden sich innerhalb einer Schulform die einzelnen Schulen erheblich voneinander. In unseren sächsischen Studien haben wir eine Reihe von Mittelschulen gefunden, deren Gewaltbelastung geringer war als die von vielen Gymnasien.

Ein Ursachenkomplex für aggressives Verhalten der Kinder liegt im Familienklima und dem von den Eltern praktizierten Erziehungsstil. Ein restriktiver, aber insbesondere ebenfalls ein gleichgültiger Erziehungsstil stehen hierbei im Zusammenhang mit erhöhtem gewalttätigem Handeln der betreffenden Kinder. Eine Überverwöhnung indes setzt die Kinder einem größeren Risiko aus, Opfer zu werden.

Welche Einflussfaktoren müssen weiter beachtet werden? So tritt mit zunehmendem Alter der Kinder etwa die Vorbildwirkung durch Gleichaltrige – auch im negativen Sinne – stärker zutage. Zudem geben die Studien Aufschluss über den Zusammenhang häufigen Medienkonsums von Gewalt-, Porno- und Horrorfilmen und einer Häufung in der Gewalttäterschaft.

Häufig vergessen, aber von zentraler Bedeutung für die Entstehung aggressiven Schülerverhaltens sind Einflüsse der Schulkultur, darunter das Lehrer-Schüler- Verhältnis und die Unterrichtsqualität sowie – etwas weniger stark – die Möglichkeiten für Schüler, in das Schulleben eingebunden zu sein, Einfluss nehmen zu können.

Aktuelle Befunde und Entwicklungstrends können aus dem Zusammenhang einer internationalen Gesundheitsstudie „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC) berichtet werden, die im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO seit 1983 durchgeführt wird. Danach leiden etwa drei bis fünf Prozent der deutschen Schüler unter permanentem Mobbing in der Lebenswelt Schule. Jungen sind dabei nicht nur meist Täter, sondern auch oftmals Opfer von gewalttätigen Handlungen. Dies trifft im Besonderen auf die genannten physischen Aggressionen zu: sieben Prozent der Jungen treten als Täter in Erscheinung, die Opferrate beträgt 6,5 Prozent; bei den Mädchen sind dagegen nur 2,7 Prozent Täterinnen, und 3,9 Prozent werden Opfer physischer Gewalt. Zwar nutzen Mädchen eher subtilere Methoden (5,7 Prozent Täterinnen, die andere hässlich beschimpfen), doch auch hier liegen die Jungen deutlich vorn (9,4 Prozent). Eine Analyse der Gruppenstrukturen zeigt für den Zeitraum von 2002 bis 2010 eine „Tendenz zur Besserung“: Es wächst im Zeitraum von acht Jahren der Anteil derjenigen, die weder als Täter noch als Opfer Erfahrungen gesammelt haben, von 74 auf 81 Prozent. Demzufolge sinken die Anteile von Tätern und Opfern. Aber auch die der Täter-Opfer, einer besonders problematischen Gruppe, deren Mitglieder Gewalt gleichermaßen erfahren und praktizieren, ein geringes Selbstbewusstsein haben und vor „harten“ Auseinandersetzungen nicht zurückschrecken.

Im Detail betrachtet, ist vor allem der Rückgang des Täteranteils auf die Jungen zurückzuführen; 2006 war das noch jeder Achte, 2010 jeder Zehnte. Im gleichen Zeitraum ist der Täteranteil der Mädchen von 5,4 auf 6,1 Prozent leicht gestiegen.

Nach der Durchmusterung der vorliegenden empirischen Untersuchungen ergibt sich ein relativ gesicherter Forschungsstand, der geeignet ist, mit folgenden Klischees aufzuräumen:

„Die Situation wird dramatisch schlechter.“ Das Gegenteil ist der Fall: Trendanalysen zeigen, dass sogar ein leichter Rückgang bei der Schülergewalt zu registrieren ist – allerdings in Abhängigkeit von Schulart, Region, Stadtteil, der Zusammensetzung der Schülerschaft.

„Einmal Täter – immer Täter.“ Auch das stimmt – wie bereits angedeutet – nicht. Die Ergebnisse von Längsschnittuntersuchungen zeigen, dass sich die Rollen von Tätern und Opfern insbesondere in der Pubertät grundlegend ändern können – mit einer Tendenz zur Besserung. Etikettierungen als Täter sind in den allermeisten Fällen pädagogisch kontraproduktiv, da sie zu einer Verfestigung des abweichenden Verhaltens beitragen.

„Gewaltprobleme schwappen von außen in die Schule hinein.“ Auch das wäre zu kurz gegriffen. Es gibt natürlich eine Reihe von Risikofaktoren im außerschulischen Bereich. Die Studien zeigen aber auch, dass Schulkultur, Klima und Qualität des Unterrichts Risikofaktoren darstellen können und die Schule somit an der Entstehung der Problematik nicht unbeteiligt ist.

„Man kann als Lehrer wenig dagegen tun.“ Es gibt sehr viele gute Beispiele und Möglichkeiten der Prävention und Intervention, von der Streitschlichtung, über Regelsetzung für den Umgang miteinander bis hin zu Programmen zur Stärkung der Lebensbewältigung mit Unterrichtsmaterialien und Rollenspielen. Aus der Fülle nenne ich hier nur Sozial- und Konflikttraining oder Programme wie „Faustlos“ für jungere Schüler oder „Erwachsen werden“ für ältere. In einem Handbuch haben wir dazu viele praktische Tipps gegeben und solche geeigneten Programme für den Schulalltag vorgestellt.

In Wirksamkeitsstudien hat sich gezeigt, dass eine Verbesserung des Sozialverhaltens in Verbindung mit einer Stärkung der Persönlichkeit auch positive Auswirkungen auf die Schülerleistung hat. Daher ist eine auf den einzelnen Schüler und die einzelne Schülerin und deren Schwächen abgestimmte Förderung angezeigt.

Eine internationale Forschergruppe, die „HBSC Bullying Writing Group“, hat im Jahre 2009 eine Trendanalyse zur Schülergewalt in Europa und Nordamerika im Zeitraum von 1994 bis 2006 vorgelegt. Danach verringern sich die Anteile der Opfer und Täter im Untersuchungszeitraum von zwölf Jahren in bestimmten Ländern stetig, insbesondere gilt dies für die skandinavischen Länder, aber auch – zeitlich versetzt und nicht ganz so stark – für Deutschland. Diese Befunde lassen sich als Hinweis darauf interpretieren, dass präventive Maßnahmen, die in Skandinavien etwa ein Jahrzehnt früher als bei uns begonnen und systematisch betrieben wurden, Effekte zeigen. Wann ist Prävention wirkungsvoll? Wenn sie kontinuierlich und konsequent, nach einem abgestimmten Plan, der etwa im Schulprogramm verankert ist, mit klaren Zuständigkeiten (Einrichtung von Beauftragten) erfolgt. Wenn sie auf der Klassen- und Schulebene sowie im gesamten Schulsetting unter Einbeziehung der Elternschaft angesiedelt ist. Wenn sie langfristig angelegt ist und von Personen durchgeführt wird, die auf diesem Gebiet qualifiziert sind.

Lesen Sie morgen wieder die Ergebnisse der Elternbefragung über Mittelschulen in Ihrer Region im Rahmen des SZ-Schulnavigators.

Gemeinsam mit Wilfried Schubarth und Frank Ehninger hat Melzer das Buch „Gewaltprävention und Schulentwicklung“ verfasst (ISBN 978-3-8252-3477-5) Es ist ab 15. Januar für Multiplikatoren unentgeltlich bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung erhältlich.