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Weltpremiere auf dem Plattenbaudach

Die Dresdner Sinfoniker machen Prohliser Hochhäuser zur Konzertbühne und tragen die Alpen nach China.

Von Andy Dallmann
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Testlauf auf dem Hochhausdach: Bevor am 12. September 16 Alphorn-Spieler die Plattenbausiedlung zum Ort einer Uraufführung machen, musste zumindest ein kurzer Probedurchlauf gemacht werden.
Testlauf auf dem Hochhausdach: Bevor am 12. September 16 Alphorn-Spieler die Plattenbausiedlung zum Ort einer Uraufführung machen, musste zumindest ein kurzer Probedurchlauf gemacht werden. © David Sünderhauf

Markus Lehmann-Horn ist ein Grenzgänger aus Leidenschaft, der als Komponist wie Musiker gerne mal Klassik, Rock und Avantgarde durcheinander schüttelt. Doch so etwas hat selbst er nie zuvor gemacht: Im Auftrag der Dresdner Sinfoniker komponierte er ein Stück für 16 Alphörner, neun Trompeten, vier Tuben, vier große chinesische Trommeln sowie weiteres Schlagwerk, das am 12. September live auf Hochhausdächern im Dresdner Plattenbauviertel Prohlis gespielt wird.

Es gibt keine Proben, dafür viele unkalkulierbare Risiken. Wie immer, wenn jemand völliges Neuland betritt. Denn klar war: „Wenn man vorher stundenlang rumtutet, nervt man nur die Anwohner. Deshalb haben wir gesagt: Wir stellen uns aufs Dach – und dann spielen wir halt.“

Als Komponist könne er sich so jedoch nicht mal ansatzweise vorstellen, wie alles final klingen wird. „Daher ist auch die Aufregung viel größer als bei einem normalen Konzert. Da weiß man von Anfang an, was geht und was nicht“, sagt Markus Lehmann-Horn. „Hier dagegen kann sehr viel Unplanbares passieren. Doch das macht es auch wahnsinnig spannend.“

Metronom-Klick via Kopfhörer

Bei Gewitter oder Sturm müsste das Ganze allerdings abgeblasen werden, ebenso bei einem Stromausfall. „Doch ansonsten müsste alles funktionieren.“ Schließlich sei die rein technische Lösung ausführlich durchdacht, zumindest grob und mit Erfolg getestet worden. „Wir sind ja nicht in der Lage, mit einem Dirigenten zu spielen; stünde der unten auf dem Parkdeck, käme durch die Zeitverzögerung die reinste Kakofonie vom Dach.“ Zudem würden die Musiker weder sich selbst noch die Kollegen hören können. „Das mussten wir alles technisch ausklamüsern“, so der Komponist. Er testete die Laufzeiten und erstellte ein Metronom-Klick für die gesamte Komposition. Alle Musiker bekommen den Klick nun via Kopfhörer mit dem jeweiligen Zeitversatz eingespielt und ebenso eine vorproduzierte Computer-Simulation der Musik, damit sie wenigstens ein bisschen von dem hören, was die anderen gerade spielen. „Die meisten Kollegen der E-Musik-Branche würden wahrscheinlich schon an diesen technischen Gegebenheiten verzweifeln“, sagt Lehmann-Horn. „Weil er mir hingegen zutraute, damit fertigzuwerden, hat mich Markus Rindt sicher angesprochen.“

Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker, hatte die Idee für das Hochhausdach-Konzert und sich zunächst dafür ein reines Alphorn-Ensemble vorgestellt. Für ein breiteres Klangspektrum schlug der Komponist die Erweiterung auf Tubisten und Trompeter vor, Rindt wiederum brachte schließlich noch Schlagwerker sowie vier riesige chinesische Trommeln ins Spiel. Lehmann-Horn: „Das hat mir sehr gut gefallen, die traditionelle alpenländische Musik mit fernöstlicher Tradition zu verbinden. Beides ist exotisch und irgendwie zugleich doch sehr zeitgenössisch. Und so tragen wir in Prohlis die Alpen nach China.“

Komponist Markus Lehmann-Horn (l.) und Sinfoniker-Chef Markus Rindt bei der Detailplanung auf dem Parkdeck des Prohliszentrums.
Komponist Markus Lehmann-Horn (l.) und Sinfoniker-Chef Markus Rindt bei der Detailplanung auf dem Parkdeck des Prohliszentrums. © Benjamin Deiß

Lehmann-Horn, 1977 in München geboren, schrieb bisher Orchesterwerke sowie etliche Film- und Theatermusiken. Und er sagt: „Musik muss den Zuhörer fesseln, ihn reinziehen. Schafft sie das nicht, hat sie für mich nur noch musealen Wert.“ Nach diesem Prinzip sei auch seine Komposition für Prohlis angelegt. „Es wird sehr episch. Wenn die vier Tuben, die ja alle verstärkt sind, in die tiefen Lagen gehen, hat das schon etwas von einem ,Herr-der-Ringe-Sound’“.

Allerdings schaffe er es seit anderthalb Jahren nicht mehr, ein komplett unpolitisches Stück zu komponieren. „So wird jetzt ein Walzer zum Marsch, klingen Melodien an, die man aus der Nazizeit kennt, bis schließlich die Europa-Hymne zitiert wird. Eben genauso, wie bestimmte politische Strömungen am Horizont auftauchen.“ Die Wirklichkeit beeinflusse nun mal immer die Kunst und ihn beschäftige derzeit sehr der Kulturkampf der Neuen Rechten.

Weite trifft auf Tristesse

Corona hingegen spiele gar keine Rolle. „Als wir anfingen, hat noch niemand über das Virus geredet. Jetzt haben wir durch Zufall das Format der Stunde mit nahezu vorbildhaften Abständen.“ Sein erster Eindruck von Prohlis: „Selbst ohne Corona-Beschränkungen leben dort viele in einer Art Isolation.“ Weshalb der Ansatz, dieses einzigartige Konzert genau da zu veranstalten, umso wichtiger sei. „Kein Kulturtransport mit dem Dampfhammer, also beispielsweise mit einem Orchester, das Wagner auf dem Parkdeck spielt, sondern indem man den Ort wirklich einbezieht, ihn zum Klingen bringt.“ Alphörner, die die Weite einer Berglandschaft symbolisieren, treffen so auf dichteste Besiedelung, auf Zivilisation und auf Tristesse. „Was gar nicht negativ gemeint ist“, sagt Markus Lehmann-Horn. „Prohlis ist ein hochgradig spannender Ort, wirkt natürlich auch inspirierend. Allein schon durch die Größe der Häuser.“ Diesen ungeheuren Raum akustisch zu füllen, sei eine Herausforderung. „Aber hier konnte ich erstmals ein Surround-Konzept umsetzen. Die Töne wandern somit auch von Haus zu Haus – wie im Kino, wenn der Sound um einen herumschwirrt.“

Plattenbauviertel gebe es quasi weltweit, stets auch mit einer gewissen Struktur der Bevölkerung. Und so wundert es den Komponisten kein bisschen, dass dieses Projekt für weitreichendes Aufsehen sorgt. Schon vor der Weltpremiere in Dresden seien Anfragen aus anderen Städten eingegangen, was Wiederholungen denkbar macht. Doch zunächst wird Lehmann-Horn nur ganz sicher dieses eine Mal live die Soundregie übernehmen. Mit etwas bangem Herzen und bis zum letzten Ton mitfiebernd lässt er dann ganz Prohlis klingen. Und er betont: „Das wird richtig Spaß machen.“

Das Konzert: Am 12. September spielen die Dresdner Sinfoniker ab 17 Uhr auf dem Areal rund um das Prohliszentrum. Der Eintritt ist frei. Für die in begrenzter Zahl verfügbaren Sitzplätze auf dem Parkdeck des Zentrums können die Tickets online reserviert werden.

www.dresdner-sinfoniker.de