Wenn Angst die Existenz bedroht

Wenig schlafen, kaum essen. Beides belastet sie in einer schlechten Phase. Sie ist dann dauerhaft in Alarmbereitschaft, hat das Gefühl ständiger Angst. In den letzten Jahren hat sich dieser Zustand zugespitzt: Paula Kuitunen leidet an Angststörungen und Depressionen. Das könnte ihr jetzt an die Existenz gehen.
Die Studentin hat panische Angst vor mündlichen Prüfungen. „Ich funktioniere dann wie auf Autopilot“, blickt sie zurück in eine Zeit, in der sich diesen Situationen noch stellen konnte. Jetzt geht das nicht mehr. „Damals redete ich und es war, als würde jemand anders sprechen und ich schaue nur zu.“ Drei Prüfungen und die Diplomarbeit fehlen der 36-Jährigen bis zum Abschluss des Psychologiestudiums. Deshalb hat sie an der TU Dresden einen Antrag gestellt und ein ärztliches Attest vorgelegt, das ihre Krankheit bestätigt: Sie möchte schriftlich statt mündlich geprüft werden. Nachteilsausgleich nennt sich das. Jeder mit einer chronischen Einschränkung kann darauf Anspruch erheben. Doch das Prüfungsamt ist Kuitunens Wunsch nicht gefolgt.
Die Begründung der Universität: Viele mündliche Prüfungsinhalte seien schriftlich nicht prüfbar. Auch wurde die Leistungsfähigkeit und berufliche Eignung der Studentin aufgrund ihrer Krankheit generell infrage gestellt. Das erklärt die TU Dresden bei einem ersten Treffen vor Gericht. Kuitunen hat die Uni verklagt, noch gibt es kein Urteil, die Verhandlung wurde vertagt. „Selbst wenn ich in Dresden verliere, ziehe ich bis vor das höchste Gericht. Es muss sich generell etwas am Umgang mit Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ändern“, sagt sie. „Ich kämpfe nicht nur für mich.“
Die dreifache Mutter, die in Dresden seit 2003 studiert, hat deshalb eine Plattform gegründet: Mindcolors. Die Initiative soll psychische Beeinträchtigungen entstigmatisieren. „Alles andere ist nicht zeitgemäß“, so Kuitunen. „Wieso sind diese Krankheiten noch immer ein Tabu? Der statistische Trend etwa von Depressionserkrankungen stellt jedes Unternehmen vor die Frage, wie Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen integriert werden sollen. Man kann sie nicht ignorieren.“
Tatsächlich entwickeln sich die Zahlen rasant: Laut Barmer-Arztreport (2018) kämpfen in Sachsen über 73 000 Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren mit psychischen Störungen. Jeder Vierte ist betroffen. Sachsen lag mit diesem Ergebnis 2018 über dem Bundesdurchschnitt.
Laut Dresdner Studentenwerk ist die Zahl der Beratungen hingegen seit Jahren konstant. Bundesweit gebe es bei 25 Prozent der Studenten einen Beratungsbedarf, doch nur etwa zehn Prozent suchen sich tatsächlich Hilfe, meint Sabine Stiehler, die die Dresdner Beratungsstelle leitet. Bei 30 Prozent aller Erstgespräche verweisen sie und ihr Team weiter in eine Psychotherapie. Das häufigste Problem: „Wie beende ich das Studium – diese Frage dominiert“, sagt Stiehler. „Wir versuchen, die Studenten bis zum Abschluss zu coachen.“ Eins hat sich im Laufe der Zeit verändert. „Viele Studenten kommen mit psychosomatischen Problemen, das heißt ihre Probleme haben unmittelbar körperliche Auswirkungen.“
Auch auf Paula Kuitunen trifft das zu, wenn sie in einer akuten Phase steckt. Der seelische Stress macht sie ebenso körperlich kaputt. Sie sei erschöpft vom Schlafmangel, die Energie fehle ihr, weil sie kaum essen kann und sich zudem häufig übergeben muss. Hinzu kommen Existenzsorgen, für den Fall, dass sie den Abschluss nicht schafft. „Ich stehe da als dreifache Mama mit bald 40 Jahren ohne jeglichen Berufsabschluss und nur dem Abitur in der Tasche. Und das nach jahrelangem Studium.“
Die TU Dresden möchte sich zum laufenden Verfahren nicht äußern, erklärt aber: Die Universität sei am Studienerfolg ihrer Studierenden sehr interessiert. Es gäbe viele Angebote, auch für Hilfesuchende mit Prüfungsangst. Als Kuitunen ihren Antrag auf Nachteilsausgleich stellte, gab es dieses Angebot jedoch noch nicht. 2018 wurde die TU Dresden 27-mal verklagt, 16 Klagen seien laut Pressestelle noch offen. Ein Drittel der Rechtsstreite betrifft das Prüfungsrecht.