SZ + Feuilleton
Merken

Wenn Bürgerrechtler rechtsrucken

Fälle wie Sachsens Gedenkstiftungs-Direktor Siegfried Reiprich sind Ausnahmen: Das Gros der Ex-DDR-Oppositionellen hat sich nicht radikalisiert.

 7 Min.
Teilen
Folgen
1989 in Berlin: DDR-Oppositionelle zeigen, was sie von Erich Honecker und dem SED-System halten. Heute setzen einige von ihnen die Bundesrepublik mit einer Diktatur gleich.
1989 in Berlin: DDR-Oppositionelle zeigen, was sie von Erich Honecker und dem SED-System halten. Heute setzen einige von ihnen die Bundesrepublik mit einer Diktatur gleich. © imago

Von Ilko Sascha Kowalczuk

Dreißig Jahre deutsche Einheit und die Gesellschaft erscheint gespalten wie selten zuvor. Es geht dabei kein Riss durchs Land, der Ost und West scheiden würde. Dieser kennt keine geografischen Linien, keine sozialen Bedingungen und auch keine politischen Sozialisationsmuster zur Voraussetzung. AfD und Pegida sind Ausdruck einer Spaltung unserer Gesellschaft, die es auch ohne sie geben würde. Sie machen sie nur sichtbar und bieten an, sich hinter ihren Fahnen zu versammeln, um die Gräben unüberwindbarer zu machen. Das Muster ist bekannt – aus der Weimarer Republik. Kommunisten und Nationalsozialisten ging es um die Zerstörung der verhassten demokratischen Republik. Weimars Demokratie scheiterte, weil es zu wenige Demokraten gab.

Heute ist die Situation eine andere. Ein Großteil der Gesellschaft bildet eine Gemeinschaft verfassungstreuer Bürgerinnen und Bürger. Aber die Gruppe derjenigen, die die republikanische Demokratie überwinden will, wird von Jahr zu Jahr größer. Deutschlandweit gehören dazu gegenwärtig etwa zehn Prozent der Gesellschaft, im Osten liegt der Anteil deutlich höher, bei 25 Prozent. Das mag ein Lagerproblem sein, aber keines einer einzelnen Partei.

Die Ablehnung der repräsentativen Demokratie hat viele Gründe. Man würde es sich zu einfach machen, nur fehlende politische Bildung als Grund ins Feld zu führen. Aber sie gar nicht anzuführen, wäre auch nicht richtig. Denn natürlich verstehen längst nicht alle, dass es in der repräsentativen Demokratie nicht darum geht, die eine Meinung, die eine Idee durchzusetzen, sondern in einem Interessenausgleich abzuwägen und behutsam vorzugehen. Es ist ein Wettstreit, in dem sich Mehrheiten durchsetzen. Demokratie heißt eben auch, Mehrheiten zu organisieren. Das ist kompliziert, langwierig und durchaus nervig. Demokratie ist eben verdammt anstrengend.

Fast nur erfolgreiche Karrieren nach der Wende

In den gesellschaftspolitischen Debatten gibt es seit einigen Jahren eine kleine, aber durchaus prominente und publizistisch ins Gewicht fallende Gruppe von Männern und Frauen, die in der DDR zur Opposition gegen die SED-Diktatur zählten. Die Öffentlichkeit staunt immer wieder, dass diese Gruppe in einem Selbstradikalisierungsprozess in immer schärferen Widerspruch zum bundesdeutschen politischen System geraten ist. Auffällig ist, wie heterogen die „Gruppe“ ist. Es gibt weder klare Sozialisationsmuster noch eine einheitliche politische Herkunft, höchstens ein Muster fast durchweg erfolgreicher Karrieren nach 1990.

Was könnte erklären, dass es diese DDR-Bürgerrechtler ins Lager der Aluhutträger, völkischen Nationalisten, Parlamentsverächter, Populisten oder Demokratiefeinde trieb? Es gibt weniger einen abrupten Irrweg auf Seiten dieser früheren DDR-Oppositionellen, als vielmehr ein großes Missverständnis jener, die sich wundern. Keine andere soziale Gruppe, die nun zum Beispiel mit AfD und Pegida sympathisiert, ist so herausgehoben worden in den letzten Jahren wie diese DDR-Bürgerrechtler. Und warum? Weil die Öffentlichkeit es als geradezu widersinnig ansieht, dass sich DDR-Oppositionelle nach rechts außen entwickeln. Und genau hier fängt das Missverständnis an. In der Öffentlichkeit dominiert das Bild einer homogenen Opposition in der DDR. Das aber ist ein Irrtum. Es gab weder „die“ Opposition als Gruppe noch formulierte Ziele, die über die Demokratisierung der DDR (oder ihre Abschaffung) hinausgingen.

In der DDR hatte die Opposition zwar seit Mitte der 1980er-Jahre angefangen, sich politisch auszudifferenzieren und damit zu professionalisieren. Aber die Gruppen in Ost-Berlin, Leipzig, Dresden oder Jena waren klein, überschaubar, jeder kannte jeden. Die wichtigsten Prinzipien im Umgang miteinander waren keine politischen, sondern moralische: Loyalität, Solidarität, Offenheit und Vertrauen zueinander. Es waren Netzwerke, die funktionierten, weil sie durch den gemeinsamen Gegner SED-Regime zusammengehalten worden sind. Die Ziele waren objektiv systemüberwindend, etwa die Durchsetzung der Menschenrechte. Die Opposition entwarf nur in seltenen Ausnahmefällen Zukunftsvisionen, die ohne Systemgrenzen auskam.

Revolutionäre sind nicht automatisch Demokraten

Mit anderen Worten: Das erste Missverständnis seit dreißig Jahren besteht darin, dass Gegner des SED-Regimes oder Revolutionäre von 1989 automatisch auch überzeugte Demokratinnen und Demokraten seien, die automatisch dem bundesdeutschen System anhängen. Nein, diesen kausalen Zusammenhang gab es nicht, er wird lediglich stillschweigend unterstellt.

Man kann die Gegenprobe mit dem Nationalsozialismus machen: Graf von Stauffenberg war ein mutiger Mann, der sein Leben für den Sturz Hitlers gab. Aber macht ihn das zum Demokraten? Nein, natürlich nicht, und das war er auch nicht. Gerade im NS-Widerstand gab es nicht wenige, die nicht als Demokraten durchgehen, nennen wir nur mal den Sachsen Walter Ulbricht. Er war ein Kämpfer gegen den Nationalsozialismus, und er verachtete die Demokratie. Wir sollten uns von dem kausalen Nexus verabschieden, dass Widerständler gegen das SED-Regime automatisch Demokraten seien.

Nun kommt etwas zweites hinzu: um in politischen Widerstand gegen eine übermächtige Diktatur zu kommen, also bewusst, öffentlich und über einen längeren Zeitraum, bedarf es bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Es dürfte einleuchten, dass eine starke Konstitution zum „Nein“ und zum Gegen-den-Strom-Schwimmen eine Voraussetzung ist. Man könnte auch sagen, die Lust an der Provokation, am Nein, am Grenzgängertum, letztlich an der Meinung und Haltung, die dem Mainstream entgegensteht, gehört dazu, um alles in Kauf zu nehmen, was Opposition in der Diktatur bedeutet. Ein solches Leben im Gegenstrom schafft eine Identität und Selbstvergewisserung, die nicht automatisch endet, wenn das bekämpfte System gestürzt ist.

Ilko Sascha Kowalczuk (53) ist Historiker. Er ist Mitglied in der Regierungskommission „30 Jahre Revolution – 30 Jahre Einheit“. Aktuell schreibt er an einer Biografie über Walter Ulbricht.
Ilko Sascha Kowalczuk (53) ist Historiker. Er ist Mitglied in der Regierungskommission „30 Jahre Revolution – 30 Jahre Einheit“. Aktuell schreibt er an einer Biografie über Walter Ulbricht. © privat

Und hier schieden sich auch Oppositionelle in der DDR voneinander: Die einen sagten „Nein“ zu dem Staat, aber nicht zur politischen Verantwortungsübernahme, die eben demokratische Aushandlungsprozesse einschließt. Die anderen aber blieben der Erfahrung einer dichotomischen Weltsicht verbunden, die ihnen das SED-Regime aufgenötigt hatte – sie kannten nichts anderes. Sie hatten in der DDR lernen müssen, eine Chance auf Überleben bestehe nur, wenn sie in Feind und Freund und sonst nichts unterscheiden. Der Historiker Ralf Dahrendorf stellte bereits 1965 mit Blick auf die DDR-Gesellschaft fest, dass diese durch eine verbindliche Ideologie zusammengehalten wird. Sie sollte für alle Menschen verbindlich sein: „Noch die politischen Flüchtlinge aus der DDR empfinden nach einiger Zeit im Westen eine Leerstelle dort, wo ihnen die Gesellschaft des Ostens zumindest als Objekt der Kritik und des Hasses eine kohärente Ideologie anbot.“ Er meint, dass das Leben ohne zusammenhängende und verbindliche Ideologie im Westen für viele Ostler unbequem sei.

Viele vermissten eine „Idee des Westens“. „Das Angebot einer Ideologie“ hingegen „liefert einen Fixpunkt der Orientierung, der es dem Einzelnen erlaubt, sich im Einklang oder im Widerspruch mit dem Gegebenen zu verstehen, und es ihm erspart, die Welt als offenes Feld zu nehmen, in das er seine eigenen Entwürfe legen muß.“

Die Fixierung – und für manche DDR-Bürgerrechtler muss es heißen: die noch andauernde Fixierung – auf das SED-Unrechtsregime ist ein Ergebnis dieser ideologischen Dauerbestrahlung und des alternativlosen Feind-Freund-Denkens. Das Regime ist zwar weg, aber nicht das erlernte Leben mit notwendigen Feindbildern. Das macht jeden Dialogversuch sinnlos, weil es nur noch um Bekenntnisfragen geht, wie in der SED-Diktatur: dafür oder dagegen?

Gruppe der DDR-Bürgerrechtler viel größer

Ist das aber nun eigentlich zwangsläufig? Nein, natürlich nicht! Wenn die Öffentlichkeit sich wirklich für 1989 und die Opposition in der DDR interessieren würde, dann wäre nicht nur in Expertenkreisen bekannt, dass die Gruppe derjenigen einstiger DDR-Bürgerrechtler, die zu den bundesdeutschen Verfassungspatrioten zählen, weitaus größer ist als diejenigen, die heute sagen, es herrschen „DDR 2.0-Verhältnisse“. Zu dieser weitaus größeren Gruppe gehören, zum Beispiel, so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Gerd Poppe, Marianne Birthler, Reinhard Weißhuhn, Gesine Oltmanns, Tom Sello, Ulrike Poppe, Joachim Gauck, Maria Nooke, Werner Schulz, Petra Morawe, Thomas Pilz, Ralf Hirsch, Rainer Eppelmann, Annette Simon, Markus Meckel, Uwe Schwabe, Kathrin Hattenhauer, Martin Klähn, Frank Ebert, Tina Krone, Stephan Bickhardt, Katja Havemann oder Heiko Lietz, um nur einige wenige Namen zu nennen.

Wenn über diese und viele andere berichtet würde, darüber, was sie tun und denken und wie sie sich, auch in kritischer Absicht, für die bundesdeutsche Demokratie engagieren, dann würde die Gruppe jener früheren DDR-Bürgerrechtler, die so gern als Beleg für das Abdriften nach Rechtsaußen der DDR-Opposition genommen wird, erheblich an Strahlkraft, Bedeutung und Relevanz verlieren. Und man würde nicht mehr wie ein Popanz das Etikett „DDR-Bürgerrechtler“ verleihen oder vor sich hertragen. Denn die Verdienste der Vergangenheit sind historische für das Geschichtsbuch, die in der Gegenwart aber für die Zukunft.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen.