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Wenn der Eisbecher Vorfahrt hat

Erst kommt die Kellnerin, dann die Straßenbahn. Ein Streifzug im Triebwagen 9 übers Kirnitzschtalfest.

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Von Jörg Stock

Klackrums! Aufs Armaturenbrett montiert Torsten Bauch den Zündschlüssel, der hier Schaltrad heißt und so groß ist wie eine XXL-Pizza. Laut rumpelnd nehmen wir Fahrt auf. Jetzt heißt es für alle Straßenbenutzer aufpassen und Platz machen. Wir fahren links! Doch kaum losgerollt, steht das Schaltrad wieder auf null. Wir stoppen vorm Gasthof „Lichtenhainer Wasserfall“. Zwei große Fruchteisbecher wollen rüber zum Freisitz. Torsten Bauch winkt, die Eisbecher marschieren los und ihre Trägerin winkt zurück. So ist es Brauch, sagt Herr Bauch. „Kellnerinnen haben Vorfahrt.“

Die Fahrkarten bitte! Ellen Franke und ihrem zweijährigen Töchterchen Paula aus Dresden gefiel es in der historischen Holzklasse.
Die Fahrkarten bitte! Ellen Franke und ihrem zweijährigen Töchterchen Paula aus Dresden gefiel es in der historischen Holzklasse.
Immer im Focus: Mit seinem Oldtimer ist Straßenbahner Torsten Bauch stets einen Schnappschuss wert. Er freut sich, dass sein Lieblingsfahrzeug auch anderen gefällt.
Immer im Focus: Mit seinem Oldtimer ist Straßenbahner Torsten Bauch stets einen Schnappschuss wert. Er freut sich, dass sein Lieblingsfahrzeug auch anderen gefällt.
Achtung, kreuzende Eisbecher: Am Gasthof „Lichtenhainer Wasserfall“ lässt Torsten Bauch in seinem historischen Triebwagen Kellnerin Arlett Hempel den Vortritt. Bauchs Fahrzeug war am Wochenende der Blickfang beim Kirnitzschtalfest. Mit Baujahr 1926 ist de
Achtung, kreuzende Eisbecher: Am Gasthof „Lichtenhainer Wasserfall“ lässt Torsten Bauch in seinem historischen Triebwagen Kellnerin Arlett Hempel den Vortritt. Bauchs Fahrzeug war am Wochenende der Blickfang beim Kirnitzschtalfest. Mit Baujahr 1926 ist de

Wenn das Kirnitzschtal feiert, setzt die Oberelbische Verkehrsgesellschaft ihr ältestes Stück auf die Gleise der Kirnitzschtalbahn: den Triebwagen 9, gebaut 1926 bei Busch, Bautzen. Und wenn Triebwagen 9 fährt, ist Torsten Bauch dabei. Der 47-jährige gelernte Straßenbahner ist einer der Wenigen, die dieses Urviech des Nahverkehrs beherrschen. Es hat so gut wie nichts gemein mit heutigen Stadtbahnen, die auf Knopfdruck funktionieren. In Nummer 9 geht alles nur mit Handbetrieb. Selbst der Scheibenwischer hängt an einem langen Hebel. „Wir fahren mit vollem Körpereinsatz“, sagt der Wagenführer.

Torsten Bauch macht gerne Fahrdienst zum Kirnitzschtalfest. Verglichen mit Dresden, wo er Straßenbahnen fast aller Linien lenkt, ist die Arbeit hier „Rosinenpickerei“. Es geht gemütlich zu. Acht Kilometer fährt er in einer halben Stunde. In Dresden würde er in dieser Zeit vom Zentrum bis nach Weixdorf düsen. Doch im Kirnitzschtal hat es sowieso keiner eilig. Man hat Muße zum Schwatzen. Bauch schwatzt gern mit. Das Schild über seinem Sitz „Bitte keine Unterhaltung mit dem Fahrer!“ muss man nicht zu genau nehmen, findet er.

Ab geht es Richtung Tal, durch die grüne Idylle, immer neben der Kirnitzsch her. Torsten Bauch hat keine Zeit zum Träumen. Er muss seine Augen ständig überall haben. Vor allem im Rückspiegel. Überholt uns ein Auto talwärts, während bergwärts eines ausweicht, um uns – wie es Vorschrift ist – Platz zu machen, wird es heikel. Und während Bauch noch erklärt, passiert es: An der Kroatenschlucht zischt ein hellgrüner Kleinwagen von hinten heran. Aber die Volkswagenfamilienkutsche vor uns ist schon auf dem Weg nach rechts. Die Frontalkollision droht! Bauch bremst, lässt die Glocke wie wild rasseln. Im VW wird das Steuer zurückgerissen, ganz knapp rauscht der Überholer durch die Lücke zwischen uns, dem Auto und dem Felsen hindurch.

Die Haarnadelkurve am Nassen Grund. Unsere Neun kreischt schrill. Die Schienen sind vom morgendlichen Regen abgetrocknet, Metall reibt auf Metall. Nicht zu ändern, sagt der Wagenführer. Apropos Nasser Grund: Im Krimi „Tod im Kirnitzschtal“ – Autorin Thea Lehmann hat hier auf dem Fest daraus vorgelesen – fällt an dieser Stelle ein Fahrgast mausetot aus seinem Sitz. Bauch lacht. Klar, er hat sich das Buch besorgt. Nur die Zeit zum Lesen fehlt ihm.

Ostrauer Mühle. Vor der Flößerstube hauen sich Rittersleute, die Gäste gucken zu. Keiner guckt auf die Bahn, auch wenn sie noch so laut rumort. Für Bauch ein vertrautes Phänomen. „Die Leute stehen auf den Schienen und merken gar nicht, dass ich ihnen ins Kreuz fahre.“ Macht er natürlich nicht. Er klingelt, und die Selbstvergessenen huschen erschreckt beiseite.

Ankunft im Kurpark Bad Schandau. Beine vertreten. Nebenbei gibt Torsten Bauch Tarifauskünfte. In zehn Minuten wird er wieder seinen „Zündschlüssel“ anmontieren und die Abfahrtsschelle drücken. Wieder wird auf dieser Tour irgendetwas passieren. Er weiß nur nicht, was. Und das gefällt ihm so an den acht Kilometern Straßenbahn im Kirnitzschtal. Auch wenn er sie fünfmal am Tag hoch und runter fährt: Langweilig werden sie nie.