Von Alexander Schneider
Was ist das nur für ein Kerl? An einem Freitagmittag wird Josef Tammer von einem Strafgefangenen als Geisel genommen. Und schon am Montag darauf spaziert er zu seinem Dienst ins Gefängnis als wäre nichts geschehen. Josef Tammer ist 47 Jahre alt, verheiratet und hat zwei fast erwachsene Kinder. Der Mitarbeiter des Bistums Dresden-Meißen steht drei Tage die Woche Gefangenen der Dresdner Justizvollzugsanstalt (JVA) am Hammerweg als Seelsorger zur Seite.
Wie jeden Freitagmorgen radelte er auch an jenem 14. Januar von Ullersdorf zur JVA, begann seinen Dienst mit einem Blick in das Postfach. In der Regel erfährt er so von den Gesprächswünschen, denn die Insassen müssen die seelsorgerische Dienstleistung „beantragen“. In der Post war nichts Ungewöhnliches. Auch mit Torsten P., dem 38-jährigen späteren Geiselnehmer, hatte sich Tammer schon mehrfach getroffen.
Haft ist Stress-Situation
In den bald acht Jahren, die der katholische Theologe in der Dresdner JVA arbeitet, hat er schon einiges erlebt. Für die meisten Insassen ist die Haft Stress, ein echter Ausnahmezustand. Sie sitzen hinter dicken Mauern, Stahl und Stacheldraht, während draußen das Leben weiter geht. Beziehungen drohen in die Brüche zu gehen. Die in der Freiheit zurückgelassenen Partner oder Familien kommen alleine oft auch nicht so gut zurecht – doch von der JVA aus können Gefangene ihren Angehörigen kaum helfen.
Vielen tut es dann gut, mit einem Seelsorger zu sprechen. Doch auch der Vollzug selbst bietet genügend Anlässe für Frustrationen: Konflikte mit Mitgefangenen und Konflikte, die sich aus der „totalitären Haftsituation“, wie Tammer es nennt, ergeben: Ärger über undurchsichtig erscheinende oder autoritäre Entscheidungen. „Das hat oft mit dem System an sich zu tun und lässt sich in einem Gefängnis auch nicht vermeiden“, sagt der Seelsorger, „Fakt ist aber: Manch einer kriegt richtige Wut.“ Als Seelsorger könne er dazu beitragen, dass seine Gesprächspartner ein wenig Druck abbauen.
Auch Torsten P. sprach mit dem Theologen über seine Probleme. Mindestens sieben Jahre Haft hatte er noch vor sich, als er im August 2004 von Dessau, Sachsen-Anhalt, nach Dresden überstellt wurde. P. galt als Ausbruchsrisiko. 1992 wurde er zu 13 Jahren wegen Mordes an seiner Freundin verurteilt. Nach einer ersten Geiselnahme in einer JVA, auch da wollte er sich das Leben nehmen, wurde er 2002 zu weiteren acht Jahren verdonnert. Er muss in einer ausweglosen Situation gewesen sein. P. hatte noch immer nicht den Mord verarbeitet. Auch eine Therapie habe im Grunde nie stattgefunden. „Jeder weiß, dass es nur ein frommer Wunsch ist, zu glauben, im Vollzug könne eine Resozialisierung stattfinden“, sagt Tammer. Die Folge sei, dass manche Gefangene aggressiv werden – gegenüber anderen oder gegenüber sich selbst.
So war es offenbar auch bei Torsten P. Zumal er in einer besonderen, für Insassen einer JVA eher untypischen emotionalen Situation steckte. Er war zufällig in Kontakt mit einer 26-jährigen Frau, einer Mitgefangenen, gekommen – erst von Zellenfenster zu Zellenfenster 40 Meter über den Hof, später schrieben sie sich Briefe. „Die Frau hatte sich an P. aufgerichtet“, sagt Tammer. Er, der verurteilte Mörder, hatte ihr den Glauben an sich wiedergegeben – doch P. selbst hatte das nicht verkraftet. Daran sei er schließlich verzweifelt. Tammer: „Mit der Geiselnahme und seinem Tod wollte er bestätigen, dass er der schlechte Mensch ist, für den ihn alle halten.“ P. wollte sterben, plante seinen Tod durch die Kugel eines Polizisten vom Spezialeinsatzkommando (SEK).
170 Polizisten im Einsatz
Am Freitagmittag brachte P. also den Seelsorger in seine Gewalt, machte seine Zellentür zu, gerade als Tammer den Haftraum verlassen wollte. Und hielt ihm ein Besteckmesser an den Hals. „Ich dachte erst, das ist ein Spiel. Will er mich jetzt testen?“, erinnert sich Tammer. Doch P. meinte es ernst. „Er sagte: Herr Tammer, Ihnen wird nichts passieren. Aber versuchen Sie nicht, mich umzustimmen.“
P. bleibt beim „Sie“, respektiert den Seelsorger jederzeit, aber macht ihm klar, was er plant. „Er hat mich ganz bewusst als Opfer ausgesucht. Weil er wusste, dass von mir keine Gefahr ausgeht, und weil ich ihn auf seinem letzten Weg begleiten sollte. Er wollte den Seelsorger haben.“
Während außerhalb der Zelle der Alarm losrollte, zum Schluss fast 170 Polizisten im Einsatz waren, die Medien längst informiert waren und alle Welt sich Sorgen um Josef Tammer machte, saß der 47-Jährige in der Zelle, redete mit Torsten P. – und fühlte sich alles andere als bedroht. Jedenfalls nicht von seinem Geiselnehmer. „Wenn ich Angst hatte, dann nur vor dem SEK“, sagt Tammer. Er wollte nicht das Opfer einer voreiligen Befreiungsaktion werden.
Abschiedskuss durch die Luke
Unter den zahlreichen Forderungen des Geiselnehmers, darunter Tabak und Schokolade, war nur eine einzige wirklich ernst gemeint – das Gespräch mit der 26-jährigen Freundin. Und sie alleine habe ihn von seinem Vorhaben abgebracht, sagt Tammer: „Diese Frau hat das Wunder vollbracht, ihm glaubhaft zu machen, dass sie ihn liebt und an ihn glaubt.“ So habe etwas völlig Neues in Torsten P. aufbrechen können. „Nichts anders hat ihn dazu bewegt, aufzugeben. Es war seine freie Entscheidung, keine Manipulation.“ Zwei Stunden sprach die Frau durch die Luke der Zellentür mit Torsten P. Zum Schluss haben sie sich mit einem Kuss verabschiedet, bevor P. das Messer aus seinem Haftraum reichte. Das Ende der Geiselnahme.
„Ich wurde nicht verletzt, hatte auch keinen Schock, was behauptet wurde, und habe mich nicht ernstlich bedroht gefühlt“, sagt Tammer. „Ich habe mir nur Sorgen gemacht, dass meine Frau zu früh erfahren könnte, was los war.“ An jenem Freitagabend konnte Tammer sein Rad stehen lassen. Ein Mitarbeiter des Bistums hat ihn nach Hause gebracht. „Darüber habe ich mich wirklich gefreut.“