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Wenn jede Sekunde zählt

Mehr als 500 Notrufe erreichen täglich die Integrierte Regionalleitstelle in Hoyerswerda. 

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Rettungsleitstelle Hoyerswerda an der Merzdorfer Straße 1
Rettungsleitstelle Hoyerswerda an der Merzdorfer Straße 1 © Foto: Uwe Jordan (Archiv)

Von Miriam Schönbach

Von einer Sekunde auf die nächste heißt es für Henry Marks höchste Konzentration. Es klingelt an seinem Arbeitsplatz. Irgendwo in den Landkreisen Bautzen oder Görlitz wählt in diesem Augenblick jemand die 112. „Notruf Feuerwehr und Rettungsdienst. Guten Tag“, spricht der 29-Jährige in das Mikrofon. Dann strafft sich sein Rücken. Er atmet ruhig. An der anderen Seite der Leitung ist eine Frau, total außer sich. Es zählt jede Minute, ist zu spüren. Der Dispatcher in der Integrierten Regionalleitstelle in Hoyerswerda muss die Ruhe bewahren. Seine Ohren sind jetzt seine Augen.

Henry Marks lässt die Anrufende erst zu Ende sprechen, das Gesagte wird zu einem Bild. „Mein Patient zuckt und krampft“, ruft sie in den Hörer. Ihre Anspannung ist zu spüren. Immer wieder ist zu hören „Bleiben Sie bei mir“. Der ausgebildete Rettungsassistent behält die Ruhe und gibt Anweisungen: „Hören Sie mich. Überwachen Sie die Atmung. Drehen sie ihn in die stabile Seitenlage“, beruhigt er die Helfende. Nebenbei fragt er Straße, Namen ab, alarmiert schon den Rettungswagen und ruft seinem Kollegen über den Rücken zu „Ich brauche noch einen Notarzt“.

Dann widmet sich Henry Marks wieder der besorgten, ja fast verängstigten Anrufenden. Es ist wichtig für ihn, alle Informationen zu bekommen. „Beruhigen Sie sich. Können Sie mir sagen, wie der Patient atmet“, nimmt er sie per Telefon an die Hand. Die Frau beruhigt sich. Sie zählt die Atmung mit. „Jetzt, jetzt, jetzt“, sagt sie und gibt an, dass Lippen und Zunge blau sind. Der Retter hört zu, stellt weitere Fragen zum Krankheitsbild. Zwischendurch verfolgt er auf einem der drei Bildschirme, wie sich der Rettungswagen als Kästchen seinen Weg durch Weißwasser sucht. Mit Henry Marks zusammen koordinieren an diesem Vormittag zehn Dispatcher die Notfälle in der Leitstelle. An jedem Arbeitsplätzen leuchtet eine rote Lampe, wenn die Kollegen im Gespräch sind. Gerade haben alle, die an diesem Tag für Rettungsdienst zuständig sind, eine belegte Leitung. Andere kümmern sich um die Koordination der Feuerwehr-Notrufe und der Krankentransporte. In Spitzenzeiten, wenn der „Notruf eskaliert“, wie Rettungsassistent und Disponent Sebastian Ilks sagt, kann hier aber auch jeder für jeden übernehmen. Alle sitzen vor ihrer Bildschirmwand.

Außer den Stimmen der Kollegen ist nichts zu hören. Ein bisschen wirkt die Notfallzentrale wie das Cockpit von „Raumschiff Enterprise“. Auch die Stimmung gleicht der Crew von Captain Kirk. Alle sind hoch konzentriert, die Kollegen arbeiten Hand in Hand. „Jeder hat immer ein Ohr für den anderen frei“, sagt Sebastian Ilks. Für den aktuellen Ernstfall ordert ein Kollege den Rettungshubschrauber samt Arzt aus Senftenberg. 11.45 Uhr schwebt er schon über dem Lausitzer Seenland.

Über Funk meldet die Ärztin „Christoph 33 auf dem Weg nach Weißwasser. Landung in vier Minuten“. Henry Marks antwortet: „RTW vor Ort“. Er bekommt noch ein „Verstanden“, dann teilt er der Unfallmelderin mit, dass die Hilfe per Luft wie auch die Rettungssanitäter in jedem Augenblick klingeln werden. „Kann ich Sie schon allein lassen?“, fragt er. Doch die Telefonierende bittet ihn, in der Leitung zu bleiben. Fünf Minuten später ist der Hubschrauber auf einer Grünfläche neben dem Block mit dem krampfenden Patienten gelandet, wie ein weiterer Bildschirm am Arbeitsplatz zeigt.

Die Anspannung weicht. Henry Marks lehnt sich zurück. „Es wird gleich klingeln,“, sagt der Rettungsassistent zur Frau am anderen Ende der Leitung und verabschiedet sich. Auch nach sechs Jahren an diesem Platz fordern solche Anrufe höchste Konzentration. Nach der Schule in Bautzen hat er sich zu einer Ausbildung im Rettungsdienst entschieden. Für den Weißenberger ein ganz normaler Weg. Schließlich wurde er bereits mit zehn Jahren Mitglied der Jugendfeuerwehr in Bautzen-Mitte. Vor seiner Arbeit in der Integrierten Regionalleitstelle fuhr der ausgebildete Brandmeister in Radeberg als Rettungsassistent für das Rote Kreuz.

Solche vielfältigen Biografien haben fast alle Mitarbeiter rund um Stefan Schumann. Der 30-Jährige kümmert sich seit der Eröffnung der Einsatzzentrale für Ostsachsen im Juni 2015 mit seinen Kollegen 365 Tage rund um die Uhr um die Koordination von Rettungsdienst, Feuerwehr, Technischem Hilfswerk. Sie sind für die Hilfesuchende aus den Landkreisen Bautzen und Görlitz immer die ersten Ansprechpartner bei Unfällen, Bränden, Katastrophenschutz und eben der Rettung von Menschenleben. Im Freistaat gibt es insgesamt fünf Integrierte Regionalleitstellen. Neben der Leitstelle in Hoyerswerda befinden sie sich in Dresden, Leipzig, Chemnitz und Zwickau.

Der Hubschrauber fliegt zurück. Dispatcher Henry Marks bekommt noch die Information, dass der Patient durch den Rettungsdienst betreut wird. „Bei uns fangen immer die Geschichten an. Doch das Ende ist meist unbekannt“, sagt Stefan Schumann. Der Großschönauer kam auch über die Jugendfeuerwehr zu seinem heutigen Beruf. Seine Ausbildung macht er schließlich bei der Berufsfeuerwehr in München. Bevor er wieder in die Heimat zurückkehrt, ist er stellevertretender Wachabteilungsführer „Innenstadt“ in der Millionenmetropole. Das nächste SOS kommt herein. Über 500 solcher Notrufe gibt es täglich. Die jetzige Anruferin meldet sich aus dem Zittauer Gebirge. „Mein Mann war heute Morgen beim EEG. Dort fiel auf, dass sein Mundwinkel herunterhängt. Unsere Hausärztin sagt, wir sollen sofort den Notarzt rufen“, erklärt die Frau. Wieder lässt sich der Rettungsassistent den Zustand des Patienten beschreiben und alarmiert den Rettungswagen. Es könnte ein Schlaganfall sein. Um im Training zu bleiben, fahren Marks und seine Kollegen regelmäßig bei Feuerwehr und auf dem Rettungswagen mit. Die Notfallpläne der Landkreise für den Rettungsdienst sehen vor, dass zehn Minuten nach Alarmierung Hilfe vor Ort ist. „Die Hilfe ist auf dem Weg“, sagt noch Henry Marks. Um 6 Uhr früh hat sein Dienst begonnen. Seit 9 Uhr koordiniert er die Notfalleinsätze, gegen Mittag kann er in die Pause gehen, ein bisschen essen. Doch noch ist er gefragt wie Jens Lämmermann. Er erklärt gerade geduldig dem Gegenüber am anderen Ende der Leitung, dass er niemanden zum Ausräumen der Wohnung vorbeischicken kann. Auch solche Anrufe kommen vor. 6 Uhr früh ist der Dienst zu Ende.

Knapp 190 000 Einsätze stehen im Vorjahr in der Statistik der IRLS Hoyerswerda, darunter allein knapp 70 000 Rettungsdienste. 50 Telefonreanimationen waren darunter. Dazu braucht es nicht nur einen gut ausgebildeten Rettungsassistenten mit Headset in der Rettungszentrale auf der einen Seite, sondern auch einen zupackenden Ersthelfer auf der anderen Seite. „Pro Minute schwinden zehn Prozent der Lebenswahrscheinlichkeit. Da zählt jede Minute“, sagt Stefan Schumann. Die Erfahrung der Überlebensretter aus Hoyerswerda ist aber auch, dass sich immer weniger zutrauen, nach einem plötzlichen Herzstillstand sich ein Herz für diese lebenswichtige Ersthilfe zu nehmen.

Herausfordernd sind für die IRLS-Mitarbeiter auch sogenannte Großlagen. Die letzte – mit dem Großbrand des Autohauses in Görlitz – liegt noch gar nicht lange zurück. „Es ging mit einem Anruf los und auf einmal war alles rot. Weil natürlich viele den Brand gesehen und gemeldet haben“, sagt Sebastian Ilks. Für die Dispatcher bedeutet das, dass sie sich binnen kürzester Zeit aus der Vielzahl der Informationen ein Bild sortieren, damit sie die Retter, in diesem Fall die Feuerwehren, zum Einsatz herausschicken können. Oftmals werden dann auch noch Kollegen aus Bereitschaft dazu geholt, denn gleichzeitig laufen ja weitere Notfälle auf, wie ein Verkehrsunfall oder ein Sturz.

Einen letzten Anruf nimmt Henry Marks noch entgegen. Er kommt aus einem Pflegeheim. Eine Patientin, die er bereits am Morgen mit einer Platzwunde am Kopf durch den Notarzt versorgt wurde, würde nach der Rückkehr vom Röntgen nun ganz schief im Stuhl sitzen. Die Altenpflegerin macht sich Sorgen. Wieder beruhigt der Dispatcher erst die Anrufenden, dann sammelt er akribisch die Informationen über die Seniorin zusammen und bringt nebenbei schon einen Rettungswagen auf den Weg. „Wir nehmen uns der Sache an“, sagt er.

Es wird nicht lange dauern, bis der Helfer vor Ort sind. Henry Marks aber geht jetzt in seine Pause mit anschließender Bereitschaft. Stattdessen übernimmt ein anderer Dispatcher seinen Platz. Erst am Abend kehrt der Weißenberger zum Dienst ins Cockpit der Einsatzzentrale zurück. Seine Ohren werden dann wieder zu Augen, wenn er sich meldet: „Notruf Feuerwehr und Rettungsdienst. Guten Abend.“

Notrufnummer 112

Der Rettungsdienst ist unter der Notrufnummer 112 zu erreichen. Er leistet in lebensbedrohlichen Fällen Hilfe.

Er ist nicht zu verwechseln mit dem ärztlichen Bereitschaftsdienst, den Menschen bei nicht lebensbedrohlichen Beschwerden wählen sollten. Er ist unter 116117 zu erreichen und die richtige Wahl bei hohem Fieber, starken Bauchschmerzen oder Erbrechen.

Menschen sollten den ärztlichen Bereitschaftsdienst nur außerhalb der Hausarztsprechstunden kontaktieren.