Wenn Kühe umziehen

"Kommt, kommt, kommt" schallen die Rufe über den Hof. Fragend, ein bisschen unsicher heben die vorderen Kühe ihren Kopf. Keine 50 Meter liegen zwischen dem alten und dem neuen Stall. Aber die müssen dennoch erst einmal überwunden werden. So recht will keine der Kühe den Anfang machen, sie drehen lieber noch eine Runde im alten Zuhause. Es dauert ein paar Minuten bis sich das erste Tier, eine schwarze Kuh, ein paar Schritte nach vorn wagt. Ihr folgt gleich eine weiße Kuh.
Damit die Tiere nicht nach rechts oder links ausbüxen, haben die Mitarbeiter der Agrargenossenschaft Bertsdorf-Olbersdorf auf beiden Seiten große Fahrzeuge wie zum Beispiel einen Traktor mit Anhänger und einen Schaufellader abgestellt. Mit Stöcken ausgestattet stehen die Mitarbeiter verteilt zwischen dem alten und dem neuen Stall. Sie sollen gegebenenfalls mit ein wenig Druck die Kühe in die richtige Richtung leiten.
Mit einem großen Sprung über den Faltschieber
Das ist schneller nötig als gedacht. Die ersten Kühe laufen zwar im zügigen Schritt in das neue Stallgebäude hinein, stoppen aber bereits nach wenigen Metern. Der Faltschieber lässt die Tiere zögern, weiterzugehen. Mit dem sogenannten Faltschieber wird der anfallende Mist aus dem Laufgang entfernt. Die Schiene aus Stahl ist für die Kühe etwas ungewohntes. Sie machen lieber wieder kehrt. Die an der Seite stehenden Mitarbeiter verhindern, dass sie bis in den alten Stall zurückkehren.
Auch hier braucht es ein wagemutiges Tier, das als erstes den ein paar Zentimeter hohen Faltschieber überwindet. Da sie weder zurück noch zur Seite ausweichen können, springt eine der Kühe schließlich über das Hindernis. Die anderen tun es ihr gleich - ganz dem Herdentrieb folgend. Einige machen dabei einen großen Satz über den Faltschieber, andere schreiten darüber.
Ein paar Meter weiter gibt es ein weiteres "Hindernis", das als solches nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist: eine Blechabdeckung auf dem Boden. Auch hier stoppt manche Kuh verunsichert. Sie merken schnell, dass sich mit einem kleinen Sprung auch dieses "Hindernis" überwinden lässt.
Zuerst die Hochleister
Eine Kuh nach der anderen trottet in den hinteren Teil des knapp 140 Meter langen Stalls. Mehr als 100 Kühe gehören zur ersten Gruppe, die umzieht. "Wir haben mit den Hochleistern angefangen", erklärt Harald Weickelt, Vorstandsvorsitzender der Agrargenossenschaft Bertsdorf-Olbersdorf. Als Hochleister gelten die Tiere, die eine besonders hohe Milchleistung geben. Eine moderne Milchkuh kann 10.000 Liter Milch pro Jahr geben. Das entspricht etwa einer Tagesleistung von 50 Litern. Bei dieser hohen Leistung bleiben die Tiere in der Regel im Laufstall, gehen nicht auf die Weide.
Eine schwarz-weiß gefleckte Kuh weigert sich beharrlich, den alten Stall zu verlassen. Schließlich gelingt es Harald Weickelt, der als Chef selbst mit anpackt, und einem Mitarbeiter den "letzten Mohikaner" dazu zu bewegen, in den neuen Stall zu gehen. Notfalls hätte ein Eimer mit Futtermittel bereitgestanden, um das Tier in den neuen Stall zu locken. Eine Dreiviertelstunde, nachdem mit dem Umzug begonnen wurde, ist auch die letzte Kuh der ersten Gruppe angekommen.
Für die Mitarbeiter ist es nur eine kurze Verschnaufpause. Denn die zweite Gruppe im Stall nebenan soll gleich im Anschluss umziehen. Doch bevor sich das Gatter öffnet, müssen erst die Fahrzeuge umgeparkt werden. Der Laufweg ist ein anderer - auch weil die Tiere in einen anderen Teil des neuen Stalls gebracht werden. Die beiden Gruppen sind durch den Fressgang in der Mitte voneinander getrennt.
Minuten später traben die ersten Kühe der zweiten Gruppe in Richtung neuer Stall. Auch sie sind etwas zurückhaltend. Auch bei dieser Gruppe kehren einige Tiere lieber um, als geradewegs in den neuen Stall zu marschieren. Auch sie stoppen erst mal am Faltschieber. Eine Kuh beschnuppert das Hindernis besonders lange, bevor sie den Sprung darüber wagt. "Jawohl" rufen ihr die Mitarbeiter lobend zu.
Die Kühe sollen mit möglichst wenig Zwang zum Umzug in den neuen Stall bewegt werden. Der Wechsel vom dunklen Stall ins Helle und weiter in den gegenüberliegenden dunklen Stall sorgt für genug Stress bei den Tieren. Zu viel Stress wirkt sich auch negativ auf die Milchleistung aus. Eine gute Dreiviertelstunde später ist die zweite Gruppe ebenfalls komplett in den neuen Stall umgezogen.
Vom alten Stall direkt ins Melkkarussell
Die Hälfte ist damit geschafft. Insgesamt vier Gruppen wechseln heute in den neuen Stall. Die dritte soll direkt in die Melkanlage nebenan geführt werden, da sie bisher noch nicht gemolken wurde. Das setzt eine gute Vorbereitung voraus - denn der Weg ist nun nicht mehr geradeaus von einem Stall in den nächsten. Gleichzeitig ist es der erste Praxistest für das moderne Melkkarussell.
Bis zum Donnerstag voriger Woche wurde noch an der Anlage montiert, erklärt Harald Weickelt. Der "Trockentest" habe funktioniert. Nun hofft der Chef der Agrargenossenschaft auch auf einen erfolgreichen Praxistest. Die Techniker stehen zumindest bereit, falls es doch kleinere Schwierigkeiten geben sollte.
Mit dem Umzug der über 400 Kühe in den neuen Stall findet ein Großprojekt der Agrargenossenschaft sein Ende. Vor zwei Jahren begannen die Arbeiten an dem modernen Rinderstall, der direkt hinter den alten Stallgebäuden aus den 1970er Jahren für mehrere Millionen Euro entstanden ist. In dem Neubau sollen sich die Kühe wohler fühlen als in den alten Ställen, die seinerzeit für Jungrinder errichtet wurden und deshalb für ausgewachsene Milchkühe etwas zu klein sind. Dafür sorgen auch Massagebürsten. Tritt eine Kuh an sie heran, schaltet die sich automatisch ein und massiert und reinigt zugleich das Fell. Diese besondere Pflege sorgt am Ende auch für eine bessere und längere Milchleistung.
Ursprünglich hatte die Agrargenossenschaft Weihnachten als Fertigstellungstermin anvisiert, nun hat es aber bis zum Frühjahr gedauert. Auch das Coronavirus sorgte zuletzt noch für Verzögerungen. Zu den Monteuren gehörten auch viele Polen und Slowaken, die wegen der Grenzschließungen kurzzeitig nicht arbeiten konnten. "Ohne Corona hätten wir schon vor zwei Wochen umziehen können", sagt Harald Weickelt.