Von Anna Hoben
Alles begann Ende April mit einer Erkältung. „Ich war sehr geschwächt und dachte, ich hätte eine Grippe“, erinnert sich Marina Findeisen. Die 55-jährige Berufsschullehrerin aus Glaubitz versuchte es mit Hausmitteln. Doch Salbei und Tee halfen nichts. Im Gegenteil, es wurde schlimmer – und ging auf die Ohren über. Der Hausarzt verschrieb Antibiotika.
Eines Morgens, als sie ins Bad ging, hörte sie das Geräusch des Wasserhahnes nicht. Beim Frühstück fragte sie ihren Mann: „Hast du Musik angemacht?“ Er bejahte. Sie hörte nichts. Da bekam sie es mit der Angst zu tun. Den ersten Mai verbrachte sie im Bett. Am Tag darauf suchte sie im Telefonbuch nach einem Spezialisten. Doch es war ein Brückentag – sie erreichte keinen Hals-Nasen-Ohren-Arzt.
Außer im Elblandklinikum Riesa. Nachdem der Oberarzt Dr. André Ulmer die Patientin untersucht hat, behält er sie gleich da. Als Erstes kommt Marina Findeisen in einen kleinen Raum mit schalldichten Wänden. Anhand von zwölf verschiedenen Messverfahren kann dort das Gehör getestet werden. 60 Dezibel kann sie zu dem Zeitpunkt wahrnehmen. Das ist in etwa die Lautstärke einer Nähmaschine oder eines Gruppengesprächs. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist für André Ulmer die Diagnose klar: Labyrinthitis, das ist der Fachbegriff für Innenohrentzündung. „Bei einer Mittelohrentzündung hört man auch schlechter, aber man ist nicht wie taub.“ Die Patientin sei zur richtigen Zeit gekommen, sagt der Arzt. Denn ambulant ist eine Innenohrentzündung schwer zu erkennen.
Hervorgegangen war die Krankheit bei Marina Findeisen aus einer klassischen Mittelohrentzündung. Die hatte sie auf beiden Ohren; aber nur rechts waren Viren oder Bakterien ins Innenohr gelangt. Also dorthin, wo die Gehörschnecke den Schall in Nervenimpulse umwandelt und ans Gehirn weiterleitet. Deshalb ist die Innenohrentzündung so gefährlich: Es besteht das Risiko, dass das Ohr taub wird.
„Meine Nerven lagen blank“, sagt Marina Findeisen im Rückblick. Sie hatte zuvor noch nie Probleme mit den Ohren gehabt. In ihrem Job als Lehrerin ist sie – neben ihrer Stimme – vor allem auf ihr Gehör angewiesen. Im Krankenhaus bekommt sie einen Trommelfellschnitt, der dafür sorgt, dass die Flüssigkeit aus dem Ohr austritt. Gleichzeitig muss sie Antibiotika und Cortison nehmen. Am 8. Mai wird sie aus dem Krankenhaus entlassen. Da hat sich ihr Gehör schon merklich gebessert, auch wenn sie in Gesprächen immer noch stark auf die Lippenbewegungen ihres Gegenübers achtet. Sie nimmt nun wieder 30 Dezibel wahr – die Lautstärke von Flüstern. Das Ticken einer Armbanduhr oder ein raschelndes Blatt kann sie noch immer nicht hören. Noch ist auch nicht abzusehen, ob ihr Gehör langfristig Schaden genommen hat. Möglich ist es. Dann, so sagt André Ulmer, müsste man über ein Hörgerät nachdenken. Um den Hörsinn nicht weiter verkümmern zu lassen, sondern zu trainieren.
Der junge Arzt mit der ruhigen, überlegten Art plädiert für mehr Sensibilität, wenn es um das Gehör geht. „Viele nehmen solche Probleme nicht richtig ernst“, sagt er. Jeder vierte oder fünfte Deutsche habe eine langfristige Hörstörung. Oft hervorgerufen durch Hörstürze oder Besuche in zu lauten Diskotheken. Fatal seien auch Kopfhörer, die ins Ohr gesteckt werden, sogenannte In-Ear-Kopfhörer – weil der Schall dabei direkt und ohne Dämpfung über den Knochen ins Ohr geht. In seiner Freizeit spielt er E-Piano, da trägt er auch Kopfhörer, aber keine In-Ears.
Während seiner Schulzeit in Hoyerswerda war André Ulmer von Naturwissenschaften begeistert. Lieblingsfächer: Biologie, Chemie, Physik. Ein Praktikum in einer HNO-Praxis festigte den Wunsch, Arzt zu werden. Während des Studiums in Dresden fächerten sich die Interessen in alle Richtungen auf; doch am Ende landete er wieder in der HNO-Abteilung. 2008 kam er ans Elblandklinikum in Riesa. „Ich wollte im Dresdner Umland bleiben.“ Mit seiner Frau und zwei Kindern wohnt er heute in Dresden. „Wir mussten uns entscheiden, ob meine Frau pendelt oder ich.“
Wer nichts hört, ist ausgeschlossen
Der 32-Jährige ist fasziniert von der Bandbreite an Patienten und Fällen, mit denen er in seinem Beruf zu tun hat. Von dem Neugeborenen, das er auf Auffälligkeiten untersucht, bis hin zur vierstündigen Tumoroperation. Oder dem 90-Jährigen, der mit einer Gehörgangsentzündung kam, die furchtbar schmerzte. André Ulmer entdeckte, dass durch eine Diabeteserkrankung die Immunabwehr so geschwächt war, dass die Entzündung begonnen hatte, den Knochen aufzufressen. Der Mann musste vier Mal operiert werden.
Marina Findeisen ist froh und dankbar, dass es ihr schon viel besser geht. Was sie durchgemacht hat, möchte sie nicht noch einmal erleben. „Wer nichts hört, ist ausgeschlossen von der Welt.“ Ihre Achtung vor Menschen, die Probleme mit dem Gehör haben, ist gewachsen. Sie versteht es nicht, wenn jemand seinen Hörsinn leichtsinnig aufs Spiel setzt. So wie die zwei Schüler von ihr, die kürzlich nach einem Heavy-Metal-Konzert zwei Tage krank waren.