"Wer Krieg nicht erlebt hat, kann das Leid nicht fühlen"

Niederau. Immer wenn Klaus-Reiner Wittig an diesem Gedenkstein in Jessen vorbeikommt, hat er die Bilder von damals im Kopf. Vom Frühjahr 1945, als auch Jessen Kriegsschauplatz wurde. Bilder, die sich in dem damals Sechsjährigen einbrannten, die er nicht vergessen kann. Er hat das Brummen der anglo-amerikanischen Bomber noch im Ohr, die mit ihrer todbringenden Last gen Dresden flogen. "Kurz danach war der Horizont rot eingefärbt", erinnert sich der heute 81-Jährige.
Doch auch in Jessen, das heute ein Ortsteil der Gemeinde Niederau ist, gab es viele Kriegstote. 144 Menschen, Soldaten, aber auch viele Zivilisten,verloren in den letzten Kriegstagen hier ihr Leben. Auch seine Familie hat den Krieg mit einem hohen Blutzoll bezahlt. Sein Vater war an der Ostfront, kehrte nicht zurück. "1947 gab es noch ein Lebenszeichen, da war er in einem sowjetischen Lazarett. Doch danach haben wir nie wieder etwas von ihm gehört", sagt er.
Alle fünf Brüder seiner Mutter kehrten ebenfalls nicht aus dem Krieg zurück. Das ist wohl ein Grund, dass erst seine Mutter und später er den Gedenkstein für die in Jessen Gefallenen pflegte. Bis vor einem Jahr machte er das, pflanzte dreimal im Jahr Blumen, goss diese regelmäßig, hielt das Gelände sauber. Aus gesundheitlichen Gründen hat er das vor einem Jahr aufgegeben. Eine junge Familie aus Jessen führt diese Arbeit nun weiter.

Der Gedenkstein erinnert an 21 Opfer, 18 davon sind unbekannt. Es ist nicht nur ein Stein, es ist auch ein Massengrab. Die 21 Toten sind tatsächlich dort mitten im Ort bestattet worden. Denn einen Friedhof gibt es in Jessen nicht, damals nicht und heute auch nicht. Seine Mutter Martha hat ihre Erinnerungen 1996, damals schon 86 Jahre alt, zu Papier gebracht. Es ist ein wichtiges Zeitdokument.
"Alle Einwohner des Dorfes rüsteten zur Flucht vor der russischen Armee, die sich von Großenhain unserem Dorf nahte. Nur meine Schwester und ich konnten uns nicht entschließen, unser Haus zu verlassen, das gerade fertig gebaut war, als der Krieg begann und die Männer fort mussten. Wir blieben mit ein paar Flüchtlingen allein im Dorf. Das Gefühl, allein und verlassen zu sein, kann keiner ermessen. Das Vieh in den Ställen brüllte und die Hunde bellten, alles fühlte die Leere und Verlassenheit", schreibt sie.
Zur gleichen Zeit, als deutsche Soldaten das Dorf besetzten, zogen die Russen ein. Der Krieg begann nun auch in Jessen. Maschinengewehrfeuer und Kanonendonner setzten ein. Einige Häuser wurden getroffen, Einwohner flüchteten ans andere Ende des Dorfes. So war ihr Haus voll von Flüchtlingen. Soldaten und ältere Männer flüchteten nach dem Wald auf Großdobritz zu, einige wurden hier von den Kugeln getroffen. "
Ein verwundeter Soldat lag vor unserem Haus, wurde hineingetragen. Eine Flüchtlingsfrau verband ihn. Ihren Mann nahmen Russen mit ins Nebenhaus, daraufhin kam es mit einem Obersten der Russen zu Unstimmigkeiten und sie wurde erschossen. Den Verwundeten zogen sie hinaus, auch er wurde im Hof erschossen. Mein Haus wurde angebrannt", erinnert sich Martha Voigt-Wittig. Aus dem Nachbarhaus habe eine Krankenschwester eine Handgranate auf die Russen geworfen. Auch sie wurde sofort erschossen. Die Mühle Schirner wurde von einem Kanonengeschoss getroffen. In ihr verbrannten eine Krankenschwester und ein Verwundeter, schreibt sie in ihren Erinnerungen.
Die Gefallenen wurden zusammengetragen und in ein Massengrab neben dem Gedenkstein für die Opfer des Ersten Weltkrieges gelegt. Später wurden drei namentlich bekannte Tote noch umgebettet und in dem Massengrab beigesetzt. Wer die anderen 18 Toten sind, ist nicht bekannt.
40 Jahre lang hat Martha Voigt-Wittig die Gräber gepflegt. Ihr Sohn, der das später übernahm, war schon als Kind mit dabei und hat geholfen. Zwischendurch hat sich auch drei Jahre lang Familie Weser aus Jessen um die Gedenkstätte gekümmert. Klaus-Reiner Wittig gehört dem Jessener Dorfclub- und Heimatverein an, der sich ebenfalls für die Pflege der Gedenkstätte einsetzt. "Wir wollen damit das Gedenken an die Kriegsopfer bewahren und sie in Ehren halten", sagt Falko Wilschke. Der 69-Jährige war lange Vereinschef und gehört noch heute dem Vorstand an. Die ursprüngliche Gedenkstätte, die einst aus einem großen und 16 kleinen Kreuzen bestand, wurde 1997 umgestaltet. Der Steinmetz Reinhardt Müller aus Jessen stellt die Steine her, eine Gießerei aus Lauchhammer fertigte die Gedenktafeln.
Klaus-Reiner Wittig kommt noch immer oft an den Gedenkstein. Und manchmal muss er an die Worte denken, die seine Mutter am Schluss ihrer Erinnerungen schrieb: "Zum Nachdenken für die, die nach uns kommen, denn wer einen Krieg nicht erlebt hat, kann Angst, Not und Leid nicht fühlen."