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Wie der Alkohol das Leben verändert

Wer an den Treffen der Anonymen Alkoholiker teilnimmt,hat einen schweren Weg hinter sich. Und blickt doch optimistisch nach vorn.

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Von Jenny Thümmler

Lutz macht daraus keinen Hehl: Was bei den Treffen der Anonymen Alkoholiker besprochen wird, hat ihn anfangs befremdet. „Hase krank, Arztbesuch, Frau nicht befriedigt. Ich dachte, was erzählen die hier nur?!“ Er blieb trotzdem dabei. Und hat schnell gemerkt, dass diese Alltagsprobleme nur die Fassade sind. In Wirklichkeit reden sich die Teilnehmer die Probleme von der Seele – die mit und die ohne Alkohol.

Und die sind kein Pappenstiel. Fast alle in der Runde haben eine Scheidung hinter sich, fast alle hatten Rückfälle, kaum einer lebt unbeschwert. Sechs Männer von Mitte 40 bis Mitte 70 sitzen im Gemeindeamt der Auferstehungskirche. Seit 20 Jahren hat die Gruppe hier ihren eigenen Raum. Zwei Schränke, ein Tisch mit Sitzbank und Stühlen. Die Meetings – wie die Treffen genannt werden – sollen kein Zwang sein, sondern Angebot. Jeder kommt und geht, wie er mag. Seinen vollen Namen verrät niemand. Fotos für die Zeitung gibt es nicht. Das ist das Credo der Anonymen Alkoholiker, wie der Name eben sagt. Das Schild steht nicht zufällig auf dem Tisch: „Wen du hier siehst, was du hier hörst – wenn du gehst, bitte, lass es hier.“

Dabei scheuen die Mitglieder die Öffentlichkeit keineswegs. Einige gehen zu Fragestunden in Schulen, beraten in der psychiatrischen Klinik. Auch im Alltag lässt sich die Erkrankung nicht immer verheimlichen. Es fällt in unserer Gesellschaft auf, wenn jemand niemals Alkohol trinkt. „Ich bestelle mittlerweile meinen Schwedeneisbecher ohne Eierlikör, ohne mich zu schämen“, sagt einer. Noch nie hat er seltsame Reaktionen erlebt. Aber es stimmt trotzdem: Leicht war das am Anfang nicht.

„Mein Name ist Manfred, und ich bin Alkoholiker.“ Jeder beginnt derart seinen Beitrag. Manfred ist gebürtiger Rheinländer und temperamentvoll. Er redet laut, schnell und in deutlichen Worten. „Ich hasse mich beim Saufen. Aber dann ist es ja eh erst mal egal.“ 1986 macht er seine erste Entgiftung. Aber er hält den Entzug nicht durch, es folgt die zweite, dritte, vierte Entgiftung. Er fährt betrunken Auto und wird mehrmals seinen Führerschein los. „Ich hab’ mir übers Autofahren nie Gedanken gemacht. Mit jedem Mal, das es gut ging, wirste ja selbstsicherer.“

1989 macht er eine Langzeittherapie und bleibt bis 2001 trocken. Bis er sich an einer Autobahnraststätte zur Schachtel Zigaretten eine Dose Bier kauft. Einfach so. Er kann bis heute nicht sagen, warum. Nach sechs Monaten ist er wieder dort, wo er vor zehn Jahren aufgehört hatte. Er lügt zu Hause. Um heimlich trinken zu können, versteckt er überall Schnaps. „Da sind der Fantasie echt keine Grenzen gesetzt.“ Er lacht. Es klingt bitter.

Zwischendurch versucht er immer wieder aufzuhören und entsorgt all den Alkohol. „Und dann sind wir stinksauer, wenn wir ein paar Tage nichts getrunken haben, und keiner kommt an und klopft uns dafür auf die Schulter.“ Manfred wird laut. „Ja, warum denn nicht?! Wieso sollten sie denn auch? Das haben wir doch ihnen jahrelang erzählt!“ Und dabei gelogen, immer wieder. Sie ist einfach, diese Logik. Doch für die Betroffenen so schwer zu begreifen.

Ihm gegenüber sitzt Siggi. Um die 50, Pferdeschwanz hinter Halbglatze. Er spricht leise. Seine Geschichte klingt ähnlich. Mit 20 Jahren macht er seine erste Entgiftung. Wie oft er danach wieder auf der Jochmannstraße war, hat er nicht mehr gezählt. „Ich war jung und habe mir keinen Kopf gemacht.“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich habe erst um Hilfe gebettelt, wenn ich aufm Boden lag.“

Erst als er seine Frau kennenlernt, gelingt der Absprung. Sechs Jahre lang. Dann ist die Frau weg, der Alkohol da. Er verliert seinen Job. Im Handschuhfach seines Autos liegt immer eine Flasche Schnaps, damit er überhaupt fahren kann, ohne zu zittern. Als seine Schwester ihm einmal die Flasche wegnehmen will, rastet er aus. „Zum Glück ist meine Mutter dazwischen gegangen. Ich hätte sie sonst erschlagen.“ 1993 macht Siggi eine Therapie und schafft den Ausstieg. Und er lernt: „Du hast das Problem ja nicht mit dem Alkohol, sondern mit dem Leben. Du musst den Grund fürs Trinken finden und das ändern. Sonst geht es nicht.“

Es sind traurige Geschichten, die jeder hier erlebt hat. Und doch wirken alle in der Runde positiv und optimistisch. Sie haben ihre Krankheit im Griff. Eberhard ist seit vielen Jahren der Kopf der Gruppe, vertritt sie auch nach außen. Er trinkt seit fast 30 Jahren nicht mehr. Die allmähliche Abhängigkeit ist das Schlimmste, sagt der 76-Jährige. Man merkt es nicht. „Ich wollte nie wahrhaben, was sich da in mir aufbaut.“

Auch Manfred betont Alkoholismus als schleichende Erkrankung. „Das Problem ist viel größer als bekannt. Es gibt keinen größeren Münchhausen als einen Alkoholiker.“ Lügen gehört zum Alltag. Und ist das Trinken im Griff, bleibt das Problem des verlorenen Vertrauens. Jahrelang wird auf den Gefühlen der Familie herumgetrampelt. „Das lässt sich nicht binnen Wochen reparieren.“ Aber geht man eine Therapie nicht vor allem für sich selbst an? Manfred überlegt. „Nein. So selbstverliebt ist keiner.“

Ob er wieder rückfällig wird, kann hier keiner sagen. Vielleicht. Vielleicht nicht. Alkoholismus ist eine Krankheit, die nicht geheilt werden kann. Die Anonymen Alkoholiker wissen, dass sie jeden Tag kämpfen müssen, für den Rest ihres Lebens. Stolz über den bisherigen Erfolg ist kaum einer. Manfred meint, ja, ein bisschen. Siggi: „Nee, ich nicht. Ein Zuckerkranker ist auch nicht stolz, bestimmte Sachen nicht essen zu dürfen.“ Eberhard überlegt lange. Dann: „Ja, ich bin stolz. Aber nicht überheblich.“