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Wie der "Corona-Geheimreport" entstand

Es ist Stoff für Verschwörungstheoretiker: Ein Mitarbeiter des BMI fertigt auf eigene Faust einen kritischen Report an und wird suspendiert. Wie es dazu kam.

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Mehrere hundert Menschen demonstrieren vor dem Reichstagsgebäude in Berlin gegen eine Impfpflicht und gegen die Maßnahmen der Bundesregierung gegen die Ausbreitung des Coronavirus.
Mehrere hundert Menschen demonstrieren vor dem Reichstagsgebäude in Berlin gegen eine Impfpflicht und gegen die Maßnahmen der Bundesregierung gegen die Ausbreitung des Coronavirus. © Kay Nietfeld/dpa

Von Benjamin Reuter

Ein Regierungsbeamter zieht auf eigene Faust los, recherchiert wochenlang, schreibt einen 83-seitigen Report und verschickt ihn dann an Regierungsstellen im ganzen Land. Anschließend landet das Papier als PDF im Internet.

In seinem Bericht wirft der Beamte der Regierung schwerste Versäumnisse vor. Unter anderem, dass sie ihre ureigene Aufgabe nicht wahrnehme, nämlich Schaden von den Bürgern abzuwenden.

Schlimmer noch: Sie füge aus Nachlässigkeit ihren Bürgern absichtlich Schaden zu und beschneide elementare Grundrechte.

Es ist die typische Geschichte eines Whistleblowers. Aber wie der aktuelle Fall eines Papiers zur Coronakrise aus dem Bundesinnenministerium zeigt, sind die Grenzen zwischen einem Whistleblower und einem Brandstifter manchmal fließend.

Eindruck eines offiziellen Schreibens

Am 8. Mai um 15:34 Uhr drückte der Oberregierungsrat des Bundesinnenministeriums, Stephan Kohn, in seinem E-Mail-Programm auf senden. Unter den Empfängern: Sein Vorgesetzter im Ministerium, der Corona-Krisenstab und das Kanzleramt. Auch alle Landesregierungen erhielten eine Kopie, wie die „Zeit” berichtet.

Im Betreff der E-Mail stand: „Ergebnisse der internen Evaluation des Corona-Krisenmanagements“. Das angehängte Dokument trug den Briefkopf des BMI, es wirkte also wie ein offizielles Schreiben.

Der betroffene Mitarbeiter Stephan Kohn ist SPD-Mitglied, sein Vorsitzender ist der Juso-Chef und stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende, Kevin Kühnert. Kohn versuchte sogar, für den Parteivorsitz zu kandidieren. Doch nun wird er, ob gewollt oder nicht, zum Stichwortgeber für Verschwörungstheoretiker, die dem Staat in der Coronakrise finstere Machenschaften unterstellen.

In dem Papier behauptet Kohn, es könne „keinen vernünftigen Zweifel mehr daran geben, dass die Coronawarnung ein Fehlalarm war“. Der Staat habe in der Coronakrise „in geradezu grotesker Weise versagt“. Und weiter: „Wir haben es aller Voraussicht nach mit einem über längere Zeit unerkannt gebliebenen globalen Fehlalarm zu tun.”

Tatsächlich? Das würde bedeuten, dass sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Dutzende in ihrem Fach führende Forscher, die sich seit Jahren mit Viren und Pandemien beschäftigen, geirrt haben. Starker Tobak also.

Stephan Kohn sammelt im April 2018 vor dem Tagungsort des Außerordentlichen Bundesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) Unterschriften für eine Kandidatur für den Vorsitz.
Stephan Kohn sammelt im April 2018 vor dem Tagungsort des Außerordentlichen Bundesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) Unterschriften für eine Kandidatur für den Vorsitz. © Fabian Sommer/dpa

Kohn kritisiert an anderer Stelle im Dokument den aktuellen „Alarmismus“ und behauptet, die staatlichen Schutzmaßnahmen würden mehr Todesopfer fordern als das Virus. Außerdem wirft er den etablierten Medien vor, die Regierungspolitik nicht kritisch zu hinterfragen, sondern vielmehr als Sprachrohr der Regierungspolitik zu agieren. Er warnt zudem davor, dass die Regierung für ihr Handeln haftbar gemacht werden wird.

Diese Aussagen decken sich mit vielem, was derzeit im Milieu der Verschwörungstheoretiker verbreitet und millionenfach geklickt, gelesen, gehört und angesehen wird. Und das stand plötzlich ganz offiziell unter dem Briefkopf eines Ministeriums. Kein Wunder, dass die Resonanz im Netz riesig ist. 

Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen erfreuen sich seit Wochen wachsenden Zulaufs. In ihrem Fahrwasser wollen Rechtsextreme und Apokalyptiker an den Mainstream andocken. Experten warnen davor, diese neue Mischung, die wenig mehr als das Aufbegehren gegen die Corona-Politik eint, zu unterschätzen.

Das Papier trifft also mitten hinein in eine Bewegung und Debatte, die das Potenzial hat, die Gesellschaft zu spalten.

Dabei wundert es nicht, dass das Dokument unter anderem dem Online Magazin „Tichys Einblick“ zugespielt wurde, das es seit Tagen ausschlachtet. „Tichys Einblick“ ist so etwas wie das Zentralorgan der Wutbürger, die sich noch eine demokratische Fassade erhalten wollen. Tatsächlich sind viele Inhalte nah am Rechtspopulismus. Manche auch schon jenseits dessen. Wie das Papier zu „Tichys Einblick“ kam, ist offen.

Kohn wurde umgehend suspendiert

Kohn wurde vom Bundesinnenministerium am Wochenende bereits von seiner Tätigkeit entbunden. Ihm droht nun ein Disziplinarverfahren. Das BMI betont, der Referent sei für das Corona-Krisenmanagement nicht zuständig gewesen. Das Papier entspreche in keiner Weise den Positionen der Bundesregierung und „sei eine Privatmeinung“.

Was den Oberregierungsrat aus dem Referat „Schutz Kritischer Infrastrukturen“ getrieben hat, bleibt unklar. Telefonische Anfragen beantwortet er nicht. Laut „Bild”-Zeitung, die das Papier als „Geheim-Report” bezeichnet (wer googelt, findet es leicht zugänglich im Netz), kümmert er sich derzeit zu Hause „um seine Frau und Kinder”. Kohn lässt sich inzwischen arbeitsrechtlich vertreten.

Damit könnte die Geschichte zu Ende sein und das Papier wäre tatsächlich nicht mehr als die „Privatmeinung“ eines irrlichternden Einzelkämpfers. Allerdings sprangen noch am Montag zehn Wissenschaftler und Ärzte in einem offenen Brief dem Beamten bei, verteidigten seine Analyse und Schlussfolgerungen und machten dem Bundesinnenministerium schwere Vorwürfe. Es waren die zehn Personen, die Kohn als „hochrangige Experten/Wissenschaftler” in seinem Dokument nennt. Die Kronzeugen für seine Aussagen also, die dem Konvolut einen wissenschaftlichen Anstrich geben sollen.

Mit dem offenen Brief bekam der Report zusätzliche Glaubwürdigkeit, denn die zehn Unterzeichner tragen insgesamt fast 30 akademische Titel. Eine lange Liste von Dr.-Prof.-rer.-nat.-phil. hatte sich da also zusammengefunden

Es überrascht nicht, dass einzelne Abgeordnete der Union nun fordern, das Papier ernst zu nehmen und seine Aussagen zu prüfen.