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Wie ein wildes Tier im Käfig

Im heutigen Heinrich-Schütz-Konservatorium in Dresden war von 1977 bis 1987 ein Durchgangsheim untergebracht. Hunderte Kinder und Jugendliche wurden dort eingesperrt und erniedrigt. Jürgen Schwarz hat als 15-Jähriger vier Monate eingesessen.

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© kairospress

Als Jürgen mit seiner Mutter im Polizeiauto hier ankam, wurde ihm mulmig zumute. Er sah die vergitterten Fenster und wusste sofort: „Hier gibt es kein Entkommen.“ In einem Raum im Erdgeschoss gab die Mutter seine Papiere ab. Durchs Fenster sah Jürgen ihr nach, wie sie ging. „Da war so eine Angst in mir, die werde ich nie vergessen“, sagt er. Von einer Erzieherin musste er sich nackt untersuchen lassen. Er gab seine Privatsachen ab und zog die Heimkleidung an, einen Trainingsanzug und Pantoffeln. Dann wurde er hochgeführt in die erste Etage. Es war der 10. Oktober 1977.

Das Haus ist heute kaum wiederzuerkennen, selbst der Straßenname hat sich geändert. Aus dem Durchgangsheim, Togliattistraße 30 in Dresden, ist das Haus B des fein sanierten Heinrich-Schütz-Konservatoriums, Glacisstraße 30, geworden, eine angesehene Musikschule. Jürgen Schwarz ist heute ein erwachsener Mann, in ein paar Tagen wird er 51. Damals war er 15. Zum ersten Mal seit dieser Zeit betritt er das Haus. Er trägt ein weißes Hemd, das hat er mit Bedacht ausgewählt, Weiß ist die Farbe der Unschuld. „Ich war nicht der böse Junge, als der ich hier eingeliefert wurde“, sagt er. „Kein Kind kommt böse auf die Welt.“

In seiner Familie war er der Dritte von vieren, „ein Ausrutscher“, der die Mutter Tag für Tag daran erinnerte, dass es ihn eigentlich nicht geben sollte. Zu Hause auf dem Hof in Radebeul war er oft allein. In der Schule kam er nicht mit und schwänzte. Wegen einer zerschossenen Straßenlaterne und eines geklauten Mopeds landete er vor Gericht. In einen Jugendwerkhof sollte er kommen, das hatte die Jugendhilfe schon vorher entschieden und sich damit über das Gericht gestellt. Weil im Werkhof so schnell kein Platz frei war, wurde er in das Durchgangsheim eingewiesen. Jürgen denkt: „Der Mutter kam das ganz gelegen.“

Die Durchgangsheime gehörten zu den Spezialheimen in der DDR und waren dem Ministerium für Volksbildung unterstellt. Sie dienten als Wartestationen für 3- bis 18-jährige Kinder und Jugendliche, die als Ausreißer aufgegriffen oder straffällig geworden waren oder aus der Familie rausgenommen werden sollten.

Der Berliner Politikwissenschaftler und ehemalige Torgauer Pfarrer Christian Sachse hat gerade ein Buch über Spezialheime in Sachsen veröffentlicht. Er schätzt, dass 250.000 von insgesamt 500.000 Heimkindern in der DDR ein sogenanntes D-Heim kennengelernt haben. Sie blieben, bis für sie ein Platz im Heim oder Werkhof gefunden wurde.

1985 gab es 15 solcher Heime in der DDR, schreibt Sachse in seinem Buch. Das Heim auf der Dresdner Togliattistraße hat von 1977 bis 1987 bestanden, möglicherweise auch schon davor und noch danach, aus den Akten geht das nicht eindeutig hervor. Es war mit einer Kapazität für 30 Mädchen und Jungen eines der größeren. 570 Kinder und Jugendliche wurden hier jährlich eingeliefert, im Durchschnitt drei am Tag. Die Aufenthaltsdauer sollte nach der Vorschrift höchstens 14 Tage betragen.

Jürgen blieb vier Monate, und er sagt heute: „Es waren die schlimmsten vier Monate meines Lebens. Man fühlte sich wie ein wildes Tier, das man in einen Käfig gesperrt hat.“ Das Haus war rundum abgesichert, keiner der Insassen durfte es in der Zeit seines Aufenthaltes verlassen. Keiner ging zur Schule, keiner durfte auf den Hof.

In drei Gruppen waren sie aufgeteilt: Im ersten Stock die zwölf- bis 18-jährigen Jungs, im zweiten die Kleinen von 3 bis 12, im dritten die Mädchen. Vom Treppenhaus war jede Etage mit einer Gittertür abgetrennt. Dahinter das Erzieherzimmer, Clubraum, Waschflur und drei Schlafzimmer mit jeweils vier Betten. Die Schlafzimmer hatten innen keine Türklinken und keine Lichtschalter. Die Fenster mit Scheiben aus Milchglas waren abgeschlossen. Es gab Türspione und eine Notklingel.

Die Erzieher schlossen sie von 22 Uhr bis 6 Uhr ein. Für die Notdurft gab es einen Blecheimer. Der zur Hofeinfahrt liegende Schlafraum wurde als Arrestzelle genutzt. Die zugemauerten Fenster dieser Zimmer sind heute noch zu sehen. In den Arrest kam, wer sich widersetzte, die Notklingel missbrauchte oder versuchte zu entweichen. Zur Arbeit gingen die Jugendlichen hoch unters Dach. Sie montierten Schlauchklemmen, 200 Stück die Stunde, Gardinenzwicker und Schreibtischlampen. Im Erdgeschoss befanden sich Küche, Speiseraum, Kleiderkammer und ein Raum, in dem die Kleidung und der private Besitz der Insassen verwahrt wurden.

„Die vier Monate waren für mich wie vier Jahre“, erzählt Jürgen Schwarz. „In der freien Zeit und an den Wochenenden sind wir in der Bude Achten gelaufen.“ Im Klubraum spielten sie „Mensch ärger Dich nicht“, abends war die „Aktuelle Kamera“ Pflicht – mit Auswertung. „Aber das hat keinen interessiert, nicht mal die Erzieher.“ Kurz vor seiner Einweisung hatte Jürgen seine erste große Liebe kennengelernt, aber schreiben durfte er ihr nicht.

Das Grausamste, berichtet Jürgen Schwarz, war die Gewalt untereinander. „Selbsterziehung“ nannte man das. Es gab ein Ankunftsritual, dem sich keiner widersetzen durfte. Jeder Neue wurde im Waschtrakt gezüchtigt, egal wie groß und kräftig er war. Wer unterlag, musste für die anderen die Revierreinigung übernehmen und die Pinkeleimer ausleeren. Jürgen war schon damals 1,85 Meter groß und stieg schnell in die Führungsriege auf. „Die seelischen Qualen, die folgten, sind für Sieger und Verlierer gleich schrecklich“, weiß er. „Die Erzieher machten die Tür zu und wollten nichts hören. Sie nahmen sich den Stärksten als Partner und hatten damit das System unter Kontrolle.“ Es gab aber auch einen Erzieher, dem das alles an die Nieren ging. Er hatte für ihn die Freilassung beantragt. Der Antrag wurde jedoch von einer „höheren Macht“ abgelehnt.

Heimforscher Christian Sachse hat das Gespräch mit ehemaligen Erziehern gesucht, „aber die wollen nicht reden“. Manche beschimpfen ihn. „Die meisten von ihnen haben nach der Auflösung der Heime nach 1989 weiter als Erzieher gearbeitet“, sagt Sachse. „Viele Unterlagen wurden in der Wendezeit vernichtet.“ Aus verbliebenen Dokumenten und Gesprächen mit Betroffenen geht hervor: Die Kinder mussten bis zur Erschöpfung Kniebeugen machen, wurden geschlagen, mit dem Gesicht in den eigenen Kot gedrückt, zum Essen gezwungen, mit Essensentzug bestraft. Konsequenzen hatte das für kaum einen der Erzieher, geschah doch die Umerziehung auf ministerielle Anordnung. „Das Ziel der Spezialheime war der totale Umbau der Persönlichkeit“, sagt Sachse. „Man wollte jeden Widerstand brechen, um einen neuen, guten Menschen darauf aufzubauen.“

Jürgen schrieb seinen Eltern flehende Briefe, dass sie ihn da bitte rausholen sollten. Aber die Briefe wurden zensiert oder gar nicht abgeschickt. Also versuchte er abzuhauen. An einem Morgen versteckte er sich in einem Spind, wollte mit einem Lampenkabel die Schlösser nach draußen aufmachen. Doch man entdeckte ihn sofort. Der Erzieher riss die Tür auf und schlug mit Fäusten auf ihn ein.

Die Schläge seien im Grunde das Geringste gewesen, sagt er. „Das Blut konnte man wegwischen, die Schmerzen kannte man. Schlimmer war die Woche Arrest, die nicht zu enden schien.

Wer diese Ungerechtigkeit erlebt hat, kriegt das nie wieder raus.“

Mit 40 ist Jürgen Schwarz in ein tiefes Loch gefallen, schwer depressiv geworden: „Ich war plötzlich in Zwängen gefangen, am Boden zerstört. Kein Therapeut konnte mir helfen.“ Er hat sich mit der Methode des „Inneren Kindes“ beschäftigt, die von Profis in der Trauma- und Psychotherapie angewendet wird. Er wendet sie jetzt bei sich selbst an und hat so einen Weg gefunden, mit der Erinnerung klarzukommen.

Andere ehemalige Heimkinder sind dazu nicht stark genug. „Sie haben verinnerlicht, dass sie nichts wert sind und fühlen sich noch als Erwachsene minderwertig“, erklärt Christian Sachse. Es gibt einen „Fonds Heimerziehung“, der den Betroffenen finanzielle Unterstützung gewährt und damit symbolisch anerkennt, dass ihnen schweres Unrecht widerfahren ist. „Das tatsächliche Leid und die Traumata können nicht geheilt werden“, meint Sachse. „Die Leute müssen lernen, mit ihren Ängsten und Depressionen zu leben.“

Jürgen Schwarz sagt: „Wenn ich mich nicht mehr spüre, gehe ich eine Runde über den Friedhof und denke an die, die es schon geschafft haben. Dann nehme ich mich gedanklich an die Hand, verlasse den Ort und erinnere mich, dass ich weiterleben darf.“

Am 6. Februar 1978 wurde Jürgen in einem Barkas vom Durchgangsheim abgeholt und in den Jugendwerkhof Wolfersdorf bei Jena gebracht. Er blieb dort zwei Jahre und machte eine Ausbildung zum Teilfacharbeiter als Maurer. Nach der Entlassung arbeitete er auf dem Bau. Er erhielt immer die Lohngruppe eines Hilfsarbeiters und verdiente weniger als die Kollegen, obgleich es im Sozialismus hieß: „Gleiches Geld für gleiche Arbeit.“ Seit Jahren lebt Jürgen Schwarz von staatlicher Unterstützung. Ehrenamtlich betreibt er das Internetportal www.jugendwerkhof-treffen.de.

Jürgen Schwarz‘ Geschichte ist beim Stasi-Hörspiel „Radioortung.10 Aktenkilometer Dresden“ des Staatsschauspiels Dresden zu hören.

Das Buch „Ziel Umerziehung. Spezialheime der DDR-Jugendhilfe 1945-1989 in Sachsen“ von Christian Sachse erscheint in der Schriftenreihe „Auf Biegen und Brechen“ im Leipziger Universitätsverlag. Der Autor stellt es heute im Sächsischen Landtag vor.