Merken

Und dann ging's doch

Kann ein Autist in eine normale Schule gehen? Theoretisch schon. Bei einem Siebenjährigen aus der Oberlausitz aber wäre das beinahe schiefgegangen.

Von Jana Ulbrich
 7 Min.
Teilen
Folgen
Sanael Jänsch mit seiner Lernbegleiterin Diana Eckner. Mit ihrer Hilfe besucht der autistische Junge die Grundschule in Mittelherwigsdorf in der Oberlausitz.
Sanael Jänsch mit seiner Lernbegleiterin Diana Eckner. Mit ihrer Hilfe besucht der autistische Junge die Grundschule in Mittelherwigsdorf in der Oberlausitz. © Matthias Weber

Was ist das nur für ein Kind? So wissbegierig. So fröhlich. So liebenswert. Und jetzt das: Es sitzt da und lässt niemanden an sich heran. Alle anderen in der Klasse 1a schreiben eifrig: "Lotta malt lila". Nur dieser Junge schreibt nicht. "Lotta malt lila? Das ist doch dumm", murmelt er stattdessen. Und ehe Diana Eckner sich versieht, ist er auch schon aufgesprungen und aus dem Zimmer gerannt. Einfach so. Was macht man mit so einem Kind?

Diana Eckner wirft der Klassenlehrerin einen schnellen Blick zu, seufzt kurz, springt auf und holt Sanael wieder zurück in den Unterrichtsraum. Behutsam schiebt sie ihn wieder an seinen Platz. "So. Und was möchtest du dann schreiben?" Man muss Geduld haben mit diesem Jungen. Diana Eckner hat Engelsgeduld. Die 48-Jährige ist eine erfahrene Erzieherin und kennt sich aus mit schwierigen Fällen. Seit September heißt ihr schwieriger Fall jetzt Sanael Jänsch, sieben Jahre alt, Autist. Der aufgeweckte kleine Blondschopf wird sie - wenn alles gut geht - auch noch ein paar Jahre beschäftigen. Und das voll und ganz.

Diana Eckner arbeitet als Lernbegleiterin. Seit September ist es Sanael, mit dem sie nun jeden Tag in die Schule und in den Hort geht. Der Junge braucht sie als rechte Hand und als Schutzengel. Und vor allem auch als starken Arm, an dem er sich festhalten kann, wenn um ihn herum gerade mal wieder die Welt einstürzt. Die Welt stürzt ziemlich oft ein über Sanael. Der Siebenjährige leidet an einem atypischen Autismus. Der macht ihm oft das Leben schwer - und manchmal muss Sanael dann eben flüchten.

Schulbegleiter dringend nötig

Wie erklärt man so eine Krankheit? Eine emotionale Behinderung, von der niemand weiß, woher sie kommt? Carola Jänsch hat aufgehört, darüber nachzugrübeln. Die 34-Jährige sitzt am Küchentisch und lächelt: "Er ist eben ein besonderes Kind", sagt sie über ihren Mittleren. Sanael kann die vielen Informationen, die auf ihn einströmen, nicht ordnen und nicht filtern. "Er hört den Regen genauso laut wie unsere Stimmen", so beschreibt das Carola Jänsch. Und Sanael verwechselt Realität und Fiktion. "Wenn er glaubt, dass er fliegen kann, dann probiert er das aus." Deswegen braucht er ja auch immer jemanden, der auf ihn aufpasst.

Jemanden wie Diana Eckner, die ihn jetzt gerade zum Schreiben überredet: "Guck mal: Hier drüben hast du so schön 'Mama' geschrieben. Da kriegst du doch jetzt lässig 'Lotta' hin." Und siehe: Zwar widerwillig, aber immerhin kramt Sanael nun doch den Füller aus seiner Federmappe. "Fluchtverhalten bei Schreib- und Leseübungen" wird Diana Eckner später in das blaue Begleitbuch schreiben, das Sanaels Mutter am Nachmittag immer zuerst aus dem Ranzen nimmt, wenn der Siebenjährige nach Hause kommt.

Carola Jänsch ist selbst Sozialpädagogin und Therapeutin. Sie arbeitet als Lernassistentin an einer Förderschule in der Nähe. Sanael hätte auch dort eingeschult werden können. Da wäre er zumindest "gut aufgeräumt", sagt seine Mutter. Aber ihn nur "gut aufgeräumt" zu wissen, das wollte sie nicht. Denn Sanael hat eine ganz normale und altersgerechte Intelligenz. So steht das auch in einem sonderpädagogischen Gutachten der Schulbehörde: "Ihr Kind kann an einer Grundschule lernzielgleich inklusiv unterrichtet werden", empfiehlt es den Eltern. Inklusion ist doch auch das, was jetzt überall in Sachsen durchgesetzt werden soll.

Aber um Sanael in einen normalen Schulalltag integrieren zu können, braucht es eben auch jemanden, der ihn dabei unterstützt: einen Schulbegleiter eben. Auch das steht in dem Gutachten der Schulbehörde. Solche Integrationshelfer für Kinder mit Behinderungen werden über die Landkreise finanziert. Normalerweise ist das auch kein Problem. Aber für Sanael und seine Familie war es eins. Ein gewaltiges sogar. Es beginnt schon bei der Schulwahl:

Die SZ begibt sich auf Spurensuche

Familie Jänsch wohnt in Leutersdorf am Fuße des Zittauer Gebirges. Aber an der Grundschule in ihrem Wohnort wird Sanael nicht angenommen. Man habe keine Erfahrung und keine Bedingungen, um ein autistisches Kind integrieren zu können. Auch an drei weiteren Schulen im Umkreis wird der Junge abgelehnt. Erst beim fünften Vorstellungsgespräch klappt es. An der Grundschule im zwölf Kilometer entfernten Mittelherwigsdorf wollen es die Lehrer mit Sanael versuchen. "Wir haben zwar noch keine Erfahrungen in so einem Fall", sagt Schulleiterin Katrin Zwahr, "aber wir wollten es gerne probieren."

Und sie haben Sanael in der Schule schon ins Herz geschlossen. "Er ist ein offener und liebenswerter Junge", sagt die Schulleiterin. Nur habe er eben so seine Besonderheiten. Das weiß Sanael schon selber. Er blickt mit großen Augen von seinem Schreibheft auf, als er merkt, dass es gerade mal wieder um ihn geht: "Das ist nämlich so", sagt er ernst: "Manchmal spielt meine Fantasie verrückt." Diana Eckner, seine Schulbegleiterin, schmunzelt und streicht ihm sanft über den blonden Strubbelkopf. Jetzt strahlt Sanael. Und schreibt doch gleich "Lotta malt lila". Nur der Schulbegleiterin zuliebe. Sie haben sich schon ganz gut angefreundet, die beiden.

Zum Glück hat er ja nun endlich eine Integrationshelferin. Sein Schuleintritt wäre nämlich um ein Haar ins Wasser gefallen. Wenn da nicht plötzlich alle zu rudern angefangen hätten: Es ist Montag, der 12. August, als die Zittauer SZ-Lokalredaktion einen verzweifelten Anruf von Sanaels Oma bekommt: Elke Clemens ist den Tränen nahe, als sie die Lage schildert: In einer Woche ist Schuleintritt - und ihr Enkel hängt noch völlig in der Luft. Da kann jetzt nur noch die Zeitung helfen.

Wir vermuten zuerst einen Irrtum. Das gibt es doch nicht, dass kurz vor Schulbeginn nicht geklärt ist, ob und wie ein Kind in die Schule gehen kann! Wir machen uns in die Spur, fahren zu Sanaels Mutter, fragen bei den Ämtern nach und erfahren: Sanaels Schulbesuch hängt tatsächlich noch völlig in der Luft: Der Antrag der Familie für die Schulbegleitung ist im Landratsamt irgendwo liegengeblieben - und noch gar nicht bearbeitet. Und völlig unklar ist, wer die Kosten für den Hort übernimmt. Die Finanzierung eines Schulbegleiters für die Unterrichtszeit ist gesetzlich geregelt, nicht aber für den Hort. Der Hort fällt in die Zuständigkeit der Gemeinden. Die Gemeinde Mittelherwigsdorf, wo Sanael in die Schule gehen soll, ist aber nicht zuständig für ein Kind aus Leutersdorf. Und Leutersdorf wiederum muss nicht für einen Hortbesuch in Mittelherwigsdorf bezahlen. Und alle heben sie die Hände. Mittelherwigsdorfs Bürgermeister spricht von einem "Präzedenzfall", der auf Landesebene geklärt werden müsse.

Fall Sanael ist geklärt

Es ist tatsächlich ein Präzedenzfall, den es so noch nicht gegeben hat. Und was heißt das nun für Sanael? Es sind noch fünf Tage bis zum Schuleintritt. Am Dienstag schildern wir den Fall in der Zeitung - und setzen damit offenbar ein paar Räder in Bewegung. Schon am Mittwoch gibt es einen kurzfristigen Gesprächstermin mit Sanaels Eltern und allen Beteiligten. Man wisse zwar noch nicht genau wie, aber man werde auf jeden Fall im Sinne der Familie entscheiden, so erklärt die zuständige Sozialdezernentin aus dem Landratsamt. Der Familie aber läuft die Zeit davon. Und wo soll für den Jungen jetzt so schnell noch eine Lernbegleitung herkommen?

"Sie hat der Himmel geschickt." So jedenfalls sagt das Carola Jänsch. Am darauffolgenden Montag, Sanaels erstem Schultag, an dem immer noch nicht geklärt ist, wie das mit seiner Lernbegleitung laufen wird, sitzt Mareike Schneider neben dem Jungen auf der Schulbank. Sie ist zwar keine Pädagogin, kennt Sanael aber schon, seit er auf der Welt ist. Mareike Schneider ist Carola Jänschs beste Freundin. Sie hat zwei Wochen Urlaub genommen.

Inzwischen ist der Fall Sanael auch in den Behörden geklärt. Die Kosten für seine Begleiterinnen - Diana Eckner wechselt sich mit einer zweiten Integrationshelferin ab - werden über das Land und den Landkreis finanziert. Auch für den Hort. Und langsam gewöhnt sich Sanael auch daran, dass er nun jeden Tag in die Schule gehen und mitmachen muss. Nicht nur für den kleinen Autisten ist das eine riesengroße Herausforderung. Auch für seine Lehrer und seine beiden Lernbegleiterinnen. Aber es klappt immer besser. Mal sehen, ob es gelingt. Es wäre Sanael sehr zu wünschen. 

Mehr Lokales:

www.sächsische.de/loebau

www.sächsische.de/zittau