Wie schafft man es, täglich 10.000 Schritte zu gehen?

Heute ist es so weit. Vor genau einem Jahr, am 22. Juni 2018, habe ich einen Entschluss gefasst, der mich auf Trab bringen sollte. 10.000 Schritte wollte ich gehen. Jeden Tag, ein ganzes Jahr lang. Dieses Ziel hatte ich mir schon mal gesetzt – und war gescheitert. Das sollte mir nicht noch einmal passieren. Und so beginnt diese Geschichte mit einer Vorgeschichte.
Wie alles beginnt
Generation Ü 40, immer mal Rückenschmerzen und ein Job, bei dem ich häufig am Computer sitze: Im September 2017 nehme ich mir vor, dass etwas anders werden muss. Ab sofort will ich mehr zu Fuß gehen. Mindestens 10.000 Schritte pro Tag sollen es werden – also jenes Pensum, das beispielsweise der Dresdner Präventionsmediziner und Diabetologe Professor Peter Schwarz propagiert. Seine These: Wer so viel laufe, beuge damit nahezu allen chronischen Krankheiten vor.
Um meine Anstrengungen zu dokumentieren, installiere ich eine App auf meinem Smartphone. Das habe ich ohnehin fast immer in der Hosentasche, muss mir also nicht noch extra einen Fitnesstracker zulegen. Die App ist hübsch gemacht: Der Fortschrittsbalken beschreibt eine Kreisbahn; ist das Tagespensum geschafft, leuchtet der Radius hell auf und färbt sich komplett hellblau. Leider endet die Linie für die ersten Tage schon nach gut der Hälfte des Kreises: 5.550, 5.108, 5.528 ... Von der angepeilten Fünfstelligkeit bin ich weit entfernt.
Damit befinde ich mich – rein statistisch gesehen – in guter Gesellschaft: Laut einer internationalen Studie schafft der Durchschnittsdeutsche etwa 5.200 Schritte am Tag. Büroangestellte, die früh mit dem Auto zur Arbeit fahren und abends auf der Couch abhängen, kommen demnach oft gar nur auf 1.500 Schritte.
Wie ich mich austeste
Einige Wochen später verabrede ich mich mit einem Freund zum Wandern. Wir wollen in drei Tagen knapp 60 Kilometer von der Oberlausitz durch den Schluckenauer Zipfel bis in die Sächsische Schweiz laufen. 29.828 Schritte mache ich am Freitag, am Sonnabend 32.991, sogar 33.462 am Sonntag. Doch meine Euphorie über die persönlichen Bestwerte verebbt schneller als mein Muskelkater. An den Arbeitstagen danach verfehle ich die 10.000er Zielmarke wieder regelmäßig. Gewinnt der innere Schweinehund?

Wie mein Ehrgeiz wächst
Es dauert bis zum Frühsommer 2018, ehe sich der Kreis in der App fast täglich schließt. Werktags klappt das allerdings nur, wenn ich mich nach Feierabend noch mal aufraffe und loslaufe. Denn an Bürotagen stehen meist erst 5.000 bis 6.000 Schritte zu Buche. Also marschiere ich noch eine ganze Weile durchs Wohnviertel oder die nahe gelegene Dresdner Heide. Anfangs fühlt sich das an wie eine lästige Zusatzaufgabe. Doch je länger ich es mache, desto mehr genieße ich es. Beim Laufen atme ich bewusst tief ein und aus, lausche dem Gezwitscher der Spatzen oder schnuppere, wenn es in den Gärten nach brennender Holzkohle duftet. Mit jedem Schritt fällt mehr Anspannung von mir ab.
Wie ich erneut scheitere
Frust am Morgen des 22. Juni 2018: Wie ich beim Blick aufs Display feststelle, ist mein gestriger Abendspaziergang einen Tick zu kurz gewesen. „9.808“ steht auf dem Display. Der Kreis hat sich nicht geschlossen. Läppische 192 Schritte fehlen. Die hätte ich beim Auf- und Abgehen während des Zähneputzens machen können! Trotzig beschließe ich: Jetzt ziehst du die Sache ein Jahr lang durch.
Wie ich Routine entwickle
„Musst du noch deine Runde gehen?“, fragt meine Frau, wenn kurz nach halb neun endlich alle drei Kinder in ihren Betten liegen, die Spülmaschine läuft und die Küche aufgeräumt ist. „Ja“, lautet meine Standardantwort, „willst du mitkommen?“ Das tut sie leider nur selten, stattdessen macht sie Pilates. Ich kann es verstehen. Früher hätte ich Spazierengehen auch bocklangweilig gefunden.
Bewegung – das war für mich eher eine Partie Squash mit Puls 170 am Ende des Entscheidungssatzes. Nun drehe ich brav meine Runden. Bis zur Kirche, von dort die Hauptstraße hoch bis zum Supermarkt und über die Eigenheimsiedlung zurück sind es um die 4.000 Schritte. Brauche ich an manchen Abenden nur noch 1.000 bis zum Tagesziel, schlendere ich einmal um den Block. Auch für den Morgen entwickle ich ein Ritual: Statt direkt in die Redaktion gehe ich erst ans Elbufer, laufe ein paar Hundert Meter flussaufwärts und wieder zurück. In der Mittagspause versuche ich, ein paar zusätzliche Meter zu machen. Glücklicherweise nehmen es mir die Kollegen nicht übel, wenn ich sie nicht in die Kantine begleite.

Wie ich an den Daten zweifle
Manchmal spinnt die App. Zwar zählt sie artig Schritte, patzt aber beim Erfassen der Aktivitätszeiten. An einem Tag soll ich angeblich 6,3 Kilometer in 18 Minuten zurückgelegt haben. Wäre schön, ist aber Quatsch; die Faustformel besagt vielmehr, dass ich für 10.000 Schritte etwa sieben Kilometer gehen muss, und dafür – über den Tag verteilt – rund zwei Stunden benötige. Aber wie kommt die unplausible Zahl zustande? Auch der mögliche Messfehler der App beschäftigt mich. Ich beschließe, mein Pensum noch ein wenig hochzuschrauben, um auf der sicheren Seite zu sein.
Wie ich schwierige Tage überstehe
Weihnachten ist eine echte Herausforderung. Wie jedes Jahr sind wir an den Feiertagen bei Verwandten meiner Frau zu Gast. Es wird gegessen, geruht, wieder gegessen, wieder geruht. Zur Vesperzeit zeigt meine App 1.780 Schritte an. Ich werde unruhig, ziehe mir die Jacke über und marschiere im Eilschritt bis ins nächste Dorf. Wäre ja noch schöner, wenn meine Erfolgssträhne ausgerechnet an so einem Tag reißt.
Wie ich fast noch gestoppt werde
Im Frühjahr 2019 droht meinem Projekt erneut das vorzeitige Ende. Ich bin zu Gast bei meiner Mutter, die 25 Kilometer östlich von Dresden lebt. Fußwege gibt es im Dorf kaum, also laufe ich am Fahrbahnrand zum Ortsausgang. Plötzlich durchfährt mich ein jäher Schmerz: Mein linker Fuß ist an der Asphaltkante weggeknickt. Nachdem ich mit dem Schimpfen fertig bin, betaste ich das Fußgelenk. Bänderdehnung? Hatte ich schon mehrfach beim Squash. Trotz der Schmerzen beschließe ich, langsam weiterzugehen. Als ich beim Haus meiner Mutter ankomme, ist der Knöchel nur unmerklich geschwollen. Ein paar Tage später ist alles wieder gut. Halleluja!
Wie es endet – und weitergeht
Am Abend des 21. Juni ist der Konfetti-Moment gekommen: Zum 365-ten Mal nacheinander schließt sich der Kreis. Über vier Millionen Schritte hat meine App aufgezeichnet, das entspricht einer zurückgelegten Distanz von 2.800 Kilometern.
Mein Fazit
10.000 Schritte pro Tag sind selbst für Schreibtischtäter wie mich zu schaffen. Was es braucht, sind Rituale und ein bisschen Selbstdisziplin. Leider habe ich nicht nennenswert abgenommen, wie ich insgeheim gehofft hatte. Dafür fühle ich mich fitter, achtsamer, weniger angespannt. Ebenso erfreulich: Im vergangenen Jahr habe ich keinen einzigen Tag krank im Bett gelegen. Rücken? Kaum noch ein Thema. Für die nächsten zwölf Monate nehme ich mir vor, zusätzlich mehr Sport zu treiben – zu schwimmen, Rad zu fahren, Squash zu spielen. Die App bräuchte ich eigentlich nicht mehr. Ich weiß inzwischen exakt, wie weit ich an einem Tag laufen muss. Trotzdem werde ich die App weiter benutzen. Ich bin halt ein Gewohnheitstier.
Professor Peter Schwarz hat eine App mitentwickelt, die dazu anleitet, sich im Alltag mehr zu bewegen. „Videa bewegt“ ist ein achtwöchiges Videocoaching. Je nach Kasse werden die Kurskosten komplett oder teilweise erstattet.