Wie Schleifer Senioren den Krieg als Kinder erlebten

Christa Tschepel war erst acht Jahre. In ihrem Heimatort Trebendorf-Kauppe sah sie am 16. April 1945 zufällig aus dem Fenster. „Tiefflieger warfen Bomben direkt über der Schleifer Kirche ab“, erzählt die 83-Jährige. Kurz darauf folgte nach dem schweren Luftangriff auf Schleife Artilleriebeschuss.
Dubrauas Wirtschaft wurde vollkommen zerstört. Die Schmiede Hantscho und die Scheunen Gnilitza und Knöfel brannten. Es gab erste Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung. Die Schleifer Kirche und der Turm wurden durch drei Bomben-Treffer und einen Artillerie-Treffer schwer beschädigt, wie Helmut Hantscho in der Chronik „Schleife. Slepo. Dorfchronik 1272-1972“ berichtet. „Wir haben noch lange unter den Kriegsfolgen gelitten“, sagt Christa Tschepel. „Unsere Schule in Trebendorf war zerstört. So lernten wir größeren Kinder in Schleife. Eine Stunde liefen wir durch den Schnee im eisigen Winter bis dorthin….“
Funke Hoffnung ließ überleben
Edith Penk (82) war in den letzten Kriegstagen erst sieben Jahre alt. Sie erinnert sich an ständige Angst, an Ungewissheit, an wochenlanges Trommelfeuer von der Neiße her. „Wenn wir Kinder in Rohne zur Schule gingen, versteckten wir uns manchmal vor Tieffliegern in den Feldfurchen. Wir zogen die Ranzen über den Kopf“, erzählt sie. Ihr Mann Rudolf (1935-2016) lebte damals in Schleife. An jenem 16. April 1945 wurde er durch die Druckwelle des schweren Luftangriffs unter den Küchentisch geschleudert.
In Schleife richtete der Krieg an nahezu jedem Haus schwere Schäden an. „Elf Wirtschaften waren vollkommen zerstört beziehungsweise ausgebrannt. Dazu acht Wohnhäuser und 28 Scheunen und Stallungen. Die verbliebenen Häuser waren geplündert und das Vieh weggetrieben“, schrieb Helmut Hantscho in der Chronik. „114 Tote waren in unserem Dorf zu beklagen, davon 105 gefallene und vermisste Soldaten.“ 15 von ihnen hatten das 20. Lebensjahr noch nicht erreicht. Vier Einwohner starben bei Luftangriffen. Fünf Frauen und Männer wurden von sowjetischen Soldaten erschossen.
Helmut Hantscho war 1945 erst sechs Jahre alt. Schleife zählte rund 800 Einwohner. Panzersperren wurden errichtet. Geschütze wurden in Stellung gebracht. Vater Heinrich Hantscho, der bei der Lufthauptmunitionsanstalt (Muna) der Wehrmacht in Schleife arbeitete, war bereits im Januar 1945 mitsamt der Einrichtung nach Bayern evakuiert worden. Mutter Marie Hantscho floh mit den Kindern Helmut (6) und Margot (11), mit ihrer Schwester Anna Hascha und deren Kindern Manfred (18) und Hans (12) sowie mit Heinrichs Eltern Maria und Johann Hantscho bis Wachau. Bereits am 26. März 1945 gab es einen Fliegerangriff auf Schleife. „Dabei brannte Laukos Scheune und Stallung ab. In der Scheune stand auch der Wagen einer einquartierten Flüchtlingsfamilie“, zitiert Helmut Hantscho aus seiner eigens handgeschriebenen Familienchronik.
Am 16. April und 17. April folgten weitere Luftangriffe. Der Track mit den Schleifer Flüchtlingen zog ab dem 18. April über Neustadt Spree, Burg, Kamenz bis Dresden Weißer Hirsch. „Mutter glaubte, aus dem Inferno nicht mehr herauszukommen“, erinnert sich Helmut Hantscho unter Tränen an das unsägliche Leid und die Entbehrungen unterwegs. Versprengte SS-Soldaten mordeten noch in den letzten Kriegstagen. Rachsüchtige Sowjets plünderten und vergewaltigten. Andere Sowjets verhielten sich menschlich. Sie ließen die Flüchtlinge ziehen. Ein sowjetischer Offizier begleitete und schützte die Schleifer bis Neustadt Spree. „Nur der Funken Hoffnung, nur der letzte Überlebenswille ließen uns die Strapazen durchstehen“, entsinnt sich der 81-Jährige.
Einen Monat lang war die Familie auf der Flucht. Zurück kehrte sie im Juni 1945. Von Wachau über Schmorkau, Großgrabe, Bernsdorf, Schwarzkollm, Seidewinkel kam sie bis nach Schleife heim. „Als wir die letzten Meter durch das Dorf fuhren, sahen wir das ganze Ausmaß der Zerstörung“, sagt Helmut Hantscho. „Überall Ruinen, Trümmer, Granattrichter…. Doch wir waren wieder zu Hause.“Die Haustür war aufgebrochen. Die Wohnung war durchsucht und geplündert worden. Nur der graue Kater kam als einziges Lebewesen den Heimkehrenden entgegen. Erst nach 14 Tagen war er wieder zutraulich. „Unsere Familie überlebte den Krieg. Bis auf Onkel Matthäus“, erinnert sich Helmut Hantscho. „Mein Onkel hatte Eisenbahner gelernt und als Lokführer gearbeitet. 1945 fuhr er den letzten Zug mit deutschen Soldaten heraus aus Tschechien nach Sachsen. Noch am 8. Mai wurde er am Fenster der Lok bei der Rückfahrt von draußen erschossen….“
Keine Kriegsverherrlichung zulassen
Solche Schilderungen, so unterstreicht der Schleifer, bleiben unvergessen. Sie mahnen dazu, für Frieden, Toleranz und Weltoffenheit einzutreten. Sie mahnen dazu, der Opfer des Zweiten Weltkrieges immer wieder zu gedenken. Sie mahnen dazu, keine Kriegsverherrlichung und Geschichtsverfälschung zuzulassen.
„Würdig wäre, in Erinnerung an 1945 ein Gedenkheft zu verfassen. Eine solche Chronik sollte durch viele Schilderungen von Zeitzeugen erstellt werden. Lohnenswert wäre zum Beispiel ein Schülerprojekt“, schlägt Edith Penk vor. „Es darf keine einseitige Geschichtsschreibung über das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Faschismus geben. Wir sollten die Ereignisse von 1945 niemals vergessen“, begründet sie.