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Wieso, weshalb, warum?

Menschen mit geistiger Behinderung gehen wählen, also wollen sie auch informiert werden. Ein Parteienbesuch.

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© Sven Ellger

Von Anna Hoben

Wo ist eigentlich Frau Merkel? Jörg Lamm muss die Frage jetzt mal loswerden. Er ist einer von 20 Bewohnern des Epilepsiezentrums Kleinwachau in Radeberg, die an diesem Tag die SPD in Dresden besuchen. Sie sind in unterschiedlicher Ausprägung geistig und körperlich beeinträchtigt, doch das hält sie nicht davon ab, sich für Politik zu interessieren. Zwei Stunden nehmen die Genossen sich Zeit: darunter die Inklusionsbeauftragte der Landtagsfraktion, Hanka Kliese, und der Bundestagsabgeordnete sowie einstige sächsische Wirtschaftsminister Thomas Jurk.

Er muss jetzt erst mal erklären, warum die Bundeskanzlerin nicht da ist: Erstens gehört sie einer anderen Partei an, und zweitens hat sie zurzeit so viel zu tun, dass sie ständig auf der ganzen Welt unterwegs ist. Jörg Lamm nickt, das versteht er natürlich – trotzdem, er hätte es schon für eine nette Geste gehalten, wenn die Bundeskanzlerin vorbeigeschaut hätte.

„Nicht ohne uns über uns“, so lautet der Grundsatz der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. 2009 hat die Bundesregierung sie ratifiziert. Damit bekennt sich Deutschland zur umfassenden Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Alle Menschen sollen gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können. Leider klaffen Theorie und Praxis oft weit auseinander. Um dazu beizutragen, dass der Beschluss nicht nur schön klingt, sondern auch zügig umgesetzt wird, hat sich in der SPD die Arbeitsgruppe „Selbst Aktiv“ gegründet. Zwei ihrer Mitglieder sind an diesem Tag ebenfalls gekommen, um sich den Kleinwachauern vorzustellen.

Dass diese heute hier sind, hat mit Markus Hutschenreuther zu tun, einem engagierten Betreuer der Radeberger Einrichtung für Epilepsiekranke und Menschen mit Behinderung. Vor einiger Zeit erinnerte er sich an Artikel 21 des Grundgesetzes: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Hutschenreuther dachte an die geistig behinderten Menschen, mit denen er täglich zu tun hat. Die meisten besitzen das Wahlrecht. Menschen mit Behinderung dürfen nur dann nicht wählen, wenn sie in allen Belangen einen rechtlichen Betreuer haben.

Doch kümmern sich die Vertreter der Parteien wirklich ausreichend um diese potenzielle Wählergruppe? Der Betreuer war skeptisch. „Inklusion ist zwar oft ein Thema, aber es wird zu wenig mit Behinderten geredet.“ Er beschloss, die Sache auf die Probe zu stellen und schrieb die demokratischen Parteien in Sachsen an. Von allen gab es Antwort, außer von der AfD. Und so begann die politische Tour. Ganz demokratisch wurde abgestimmt, welche Partei zuerst besucht werden sollte. Die Grünen gewannen – weil sie das interessanteste Programm zusammengestellt hatten. Besichtigung des Landtages: unschlagbar. Weiter ging es zur CDU und zur Linken. Dort konnten die Kleinwachauer selbst aktiv werden und eine Wahl nachspielen. Für viele eine neue Erfahrung: Die wenigsten von ihnen hatten zuvor von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht.

„Politiker kümmern sich“

Von den 20, die jetzt den Genossen lauschen, sind bislang drei wählen gegangen. Zu ihnen gehört Bernd Ehrhard. Der 61-Jährige arbeitet in einem Betrieb in der Chemieindustrie und lebt in einer Wohngemeinschaft in Kleinwachau. Politik findet er wichtig und Politiker im Allgemeinen gut, „weil die sich um Probleme kümmern und man sich Rat holen kann“.

Probleme, die ihn beschäftigen: dass die Menschen so viele Lebensmittel wegwerfen. Dass es um Kleinwachau herum oft schwierig ist, die Straße zu überqueren, weil Auto- oder Radfahrer wenig Rücksicht nehmen. Und dass er gern die Tagesschau guckt, aber oft nicht versteht, was da gesagt wird. Deshalb, so die Politiker, ist das Konzept der „Leichten Sprache“ so wichtig. Texte werden stark vereinfacht und so auch für die Menschen zugänglich, die sonst die Nachrichten oder ein Parteiprogramm nicht verstehen würden.

Weitere Fragen aus der Runde: Warum sind die Wahlzettel so schwierig? Wann wird diese und jene Straße fertig? Warum nehmen manche Menschen keine Rücksicht auf andere? Warum gehen die Flüchtlinge nicht arbeiten? Gibt es bei euch da oben eine Altersgrenze? Mit 65 geht man normalerweise in Rente, aber der Schäuble ist doch älter! Ist das mit den Bauern jetzt mal geklärt, mit der Milch und so? Und: Ist da mal was in Planung, die Milliarden an Schulden wieder wegzukriegen?

Die Politiker erklären und erzählen, sie machen das gut und geduldig und in verständlicher Sprache. Nur manchmal dämmert ein Gast kurz ein, zieht einer ein Smartphone hervor, um damit rumzuspielen, plaudern zwei lieber über das Wetter. Die meisten sind die meiste Zeit gebannt bei der Sache, obwohl die Veranstaltung etwas von Frontalunterricht hat.

Nur manchmal kommen die Politiker etwas in Nöte. Zum Beispiel, wenn der Dauerredner loslegt. Er unterbricht gern, und seine Erzählungen sind von der ausschweifenden Art. Seine Mitbesucher halten sich mit Unmutsbekundungen nicht zurück. „Der ist echt ziemlich behindert“, zischelt eine Frau. Und die Politiker? Trauen sich nicht zu unterbrechen. Bis Mike Thomas von der Arbeitsgruppe „Selbst Aktiv“ einschreitet. Der Görlitzer SPD-Mann, selbst sehbehindert, zeigt, wie es geht: „Moment“, sagt er bestimmt. „Jetzt will Hanka auch mal was sagen.“ Die Landtagsabgeordnete Hanka Kliese guckt erleichtert.