„Wir haben die Pflicht zur Revolte“

Unermüdlich prangert der 84-jährige Jean Ziegler Hunger, Armut und Ungerechtigkeit an. Der Schweizer Soziologe und Bestsellerautor ist einer der weltweit bekanntesten Kapitalismus-Kritiker und hat mehr als zwei Dutzend Sachbücher geschrieben. Er lehrte bis 2002 Soziologie an der Universität Genf und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Ziegler war von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und ist nach wie vor Mitglied im Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats. Er lebt mit seiner Frau in Genf.
Herr Ziegler, in Ihrem Buch führen Sie einen Dialog mit Ihrer Enkelin Zohra. Wie ist dieses Gespräch entstanden?
Eigentlich waren es viele verschiedene Gespräche mit meinen fünf Enkelkindern, die zwischen vier und sechzehn Jahren alt sind. Sie wissen natürlich, was ihr Großvater tut, und sie sehen mich oft im Fernsehen bei politischen Diskussionen – also stellen sie Fragen. Oft sind das radikale, unbarmherzige, intelligente Fragen, auf die sie klare Antworten haben wollen, und keine ausschweifenden Beschwichtigungen. Aus diesen sehr interessanten Gesprächen habe ich dieses Buch geformt.
Welche Frage wird Ihnen von Ihren Enkeln am häufigsten gestellt?
Warum müssen Kinder an Hunger sterben? Das verstehen sie nicht, und das treibt sie um. Mit Gleichaltrigen identifizieren sich Kinder am ehesten. Sie sind unglaublich gut informiert, viel besser als die Generationen vor ihnen. Sie sehen, dass Kinder im Süd-Sudan oder im Jemen sterben und sind schockiert. Meine Enkel und ihre Freunde haben genug zu essen, und sie fragen mich: Warum haben das nicht auch die anderen?

Wie lautet Ihre Antwort?
Andere haben nicht genug zu essen, weil der Kapitalismus mit seiner Grundhaltung und der daraus resultierenden Monopolisierung und Multinationalisierung für Ungerechtigkeit und Armut sorgt. Im UN-Welternährungsbericht steht, dass alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren stirbt. Außerdem steht darin, dass die Weltlandwirtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte; doppelt so viele wie es zurzeit gibt. Zum ersten Mal existiert demnach kein objektiver Mangel mehr. Hunger ist von Menschen gemacht und könnte morgen aus der Welt geschafft werden. Das ist unfassbar und macht mich zornig. Nur der Zufall meiner Geburt schützt meine Enkelkinder – würden sie in bestimmten Teilen Brasiliens oder Bangladeschs aufwachsen, wären sie Opfer des täglichen Massenmordes.
Wie reagieren Ihre Enkel auf solche Erklärungen?
Sie können es ebenso wenig akzeptieren wie ich. Dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, beschäftigt sie sehr. Von mir wissen sie, dass weltweit ein Prozent der Menschen 99 Prozent des Vermögens besitzen. Und dass dies sogar in der wohlhabenden Schweiz ähnlich aussieht: Hier verfügen zwei Prozent über 96 Prozent der Vermögenswerte. Dass die Mächtigen und die Politiker nichts gegen diese Ungerechtigkeit und gegen die Zerstörung der Natur tun, treibt nun endlich Kinder und Jugendliche auf die Straße – ich finde das großartig! Greta Thunberg ist toll!
Haben Ihre Enkel etwa auch schon die Schule geschwänzt, um zu demonstrieren?
Ja. Zwei der fünf waren auf den Demos, bei denen endlich Taten gegen den Klimawandel gefordert wurden. Ich wollte von ihnen wissen, was ihre Lehrer dazu meinten, und sie antworteten: Ach, das kümmert uns nicht. Wir wollen endlich etwas tun. Ist das nicht wunderbar?
Haben Sie das Gefühl, dass die junge Generation politischer ist als ihre Vorgänger?
Die jungen Leute haben ein starkes politisches Gesamtinteresse. Moralische Grundfragen beschäftigen sie sehr, und Naturzerstörung und Rassismus lehnen sie komplett ab. Wenn in Genf in der Bahn ein Flüchtling angegriffen wird, gehen sofort vier, fünf junge Leute dazwischen. Es ist kein Zufall, dass bei den großen Demonstrationen am 16. März in 60 Staaten zu 90 Prozent Kinder und Jugendliche auf der Straße waren. Sie haben erkannt, dass der Kapitalismus den Planeten kaputtmacht, und sie haben zu Recht ihre Regierungen angeklagt.
In politischen Parteien scheinen sich junge Menschen allerdings kaum noch engagieren zu wollen.
Das stimmt. Organisierte Politik interessiert sie überhaupt nicht. Wenn ich meinen Enkelkindern sagen würde: Ich bin Sozialist, also geht doch auch mal zur sozialistischen Jugend, dann würden sie mich entgeistert anschauen. Das wäre eine Zumutung in ihren Augen. Ihr Engagement ist spontan und frei.
Haben Sie die Hoffnung, dass daraus tatsächlich eines Tages eine gerechtere Welt entsteht?
Ja! Selbst wenn es sich bei den Demonstrationen nur um Buschfeuer handelt, können sie jederzeit wieder aufflammen. Jeden Tag kann etwas Entscheidendes passieren. Karl Marx hat gesagt, dass der Revolutionär das Gras wachsen hören muss. Ich höre es zurzeit wachsen. Und von Che Guevara stammt der Satz: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.“ In der Mauer des Kapitalismus scheinen momentan Risse zu entstehen, und das macht mir tatsächlich Hoffnung. Wenn ich mit meinem Buch einen Teil dazu beitragen kann, umso besser. Möge es eine Waffe in der Hand der jungen Menschen sein, um für eine gerechtere Welt zu kämpfen!
Sie wirken stets unglaublich motiviert – kennen Sie denn gar keine Zweifel oder Frust?
Nein. Das kann ich mir auch gar nicht leisten. Ich denke immer positiv, trotz all der Niederlagen, die ich etwa auch in meiner Arbeit für die UN einstecken musste. Die Absurdität der Welt und die allgegenwärtige Ungerechtigkeit ertrage ich nicht. Als privilegierter Mensch, der in Freiheit und in einer Demokratie lebt, muss ich demnach etwas tun. Wir alle sollten etwas tun. Wir haben die Pflicht zur Revolte, um unser selbst willen. Wir dürfen nie vergessen, dass es in der Demokratie keine Ohnmacht gibt – wir haben alle Möglichkeiten, die kannibalische Weltordnung zu stürzen.
Interview: Günter Keil
Jean Ziegler: Was ist so schlimm am Kapitalismus? C. Bertelsmann, 128 Seiten, 15 Euro