Der Wolf ist auf dem Vormarsch. Von der Sächsischen Schweiz aus wird er das Osterzgebirge und den Tharandter Wald erobern. Menschen wie Sven Herzog, seit 1998 Lehrstuhlinhaber für Wildökologie an der TU Dresden in Tharandt, beschäftigen sich seit über zehn Jahren mit dem Tier. Der Professor möchte zwischen den verschiedenen Interessengruppen vermitteln. Die SZ fragte, wie das gehen soll.

Professor Herzog, wann werden sich die Wölfe in die Sächsische Schweiz und das Osterzgebirge ausgebreitet haben?
Das kann man nicht vorhersagen. Aber innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre ist das vorstellbar. Damit ist gemeint, dass ein Rudel sesshaft wird.
Ist die Region als Lebensraum für den Wolf überhaupt geeignet?
Der Wolf ist als Generalist sehr anpassungsfähig und kann in Deutschland fast überall leben. Es liegt eher an den Menschen, wie tolerant sie sind.
Gibt es überhaupt genügend Nahrung im Wald und auf den Feldern oder müssen die Wölfe zwangsläufig auch Nutztiere erbeuten?
Wenn ein Paar sesshaft wird, ist das Angebot im Wald erstmal ausreichend. Reh- und Schwarzwild ist fast flächendeckend vorhanden, aber auch Rotwild. Momentan gibt es noch eine gute Nahrungsbasis, in der mehr Reh- und Rotwild in sein Beuteschema passt. Schwarzwild erbeutet er bei uns weniger. Wenn die Wolfsvorkommen aber weiter zu- und seine Beutetiere abnehmen, rückt dann das Schwarzwild mehr ins Beutespektrum, was ich vermute. Das müsste man gezielt untersuchen.
Wie können Bauern und Schäfer ihre Herden sinnvoll vor Wolfsattacken schützen?
Das ist ein spannendes Thema und hat viel mit unserer Kulturgeschichte zu tun. Wir haben in den vergangenen 200 Jahren verlernt, mit diesen großen Raubtieren umzugehen. Viele Maßnahmen, die früher als selbstverständlich galten, hat man wieder verlernt und aufgegeben. Etwa wie man den Wolf von der Herde fernhält oder dass man seine Tiere nachts in den Stall bringen muss. Oder die Bewachung durch Schäfer. Die Nutztiere sind heute oft aus Kostengründen sich selbst überlassen.
Bewohner von Berthelsdorf bei Neustadt berichten bereits von Begegnungen mit Wölfen am helllichten Tag. Ist so etwas überhaupt möglich, wenn man bedenkt, wie scheu die Tiere eigentlich sind?
Ja, natürlich ist das möglich. Wölfe haben zwar eine angeborene Scheu vor den Menschen, sind aber sehr lernfähige Tiere. Dort, wo der Wolf verfolgt wird, hat er viel größere Scheu vor den Menschen als bei uns, wo er lernt, dass der Mensch ihm nichts tut. Das ist ein Phänomen wie in Nordamerika, wo der Grizzly fast zutraulich wird.
Man hört immer mehr Meldungen von Füchsen und Waschbären, die sich inzwischen in der Nähe von Städten und Siedlungen tummeln. Wird der Wolf seine Scheu vor den Menschen irgendwann ganz verlieren?
Das ist genau die große Frage. Wir wissen es nicht. Was macht der Wolf, wenn er über Jahre nicht verfolgt wird? Wenn er merkt, dass sein Fressen im Müll der Menschen leichter zu kriegen ist als im Wald? Oder dass die Katze im Garten einfacher zu erbeuten ist als Rotwild? So etwas müsste man erst erforschen. Der Verlust der natürlichen Scheu kann eintreten, ist aber im Moment unwahrscheinlich. Einzelne Tiere werden sich sicher anpassen. Ganz langsam, nach und nach. Dass sich Wölfe dem dicht besiedelten Raum nähern, ist aus anderen Regionen, insbesondere Osteuropa, schon beschrieben. Für uns ist es allerdings ungewohnt. Wir müssen die Gelassenheit wie beispielsweise in Italien, wo die Wölfe in den Abruzzen einfach geduldet werden, erst wieder lernen.
Gesetzt den Fall, der Wolf läuft einem doch mal über den Weg. Wie verhält man sich dann am besten?
Ignorieren Sie ihn. Lassen Sie ihn in Ruhe, der wird Sie auch in Ruhe lassen. Ein Foto kann man natürlich machen. Aber Sie sollten nicht versuchen, sich ihm zu nähern oder gar ihn zu streicheln. Man würde ihn damit eh verscheuchen. Wer Angst hat, sollte einfach weggehen. Aber nicht panisch und auch nicht wegrennen, das könnte einen Nachrenn-Reflex auslösen. Ansprechen ist auch gut. Aber immer schön entspannt bleiben, in der Regel flüchtet er.
Und wie ist das, wenn ich einen Hund dabei habe?
Dann ist es allerdings etwas anders. Im Wald sind Hunde aber sowieso an der Leine zu führen. Gehen Sie einfach weg, der Wolf wird dann normalerweise nichts machen. Sie sollten ihn nicht provozieren. Aber wenn ich in so einer Gegend wohne, sollte ich mich gedanklich immer mit einer Wolfsbegegnung beschäftigen.
Ist der Wolf gefährlich für Menschen?
Das ist er generell nicht. Es ist eher umgekehrt. Aber auch wenn wir es nur mit einem minimalen Risiko für den Menschen zu tun haben, möchte ich hier mit den Worten meines norwegischen Kollegen John Linnell antworten: ,The Risk is not Zero – Das Risiko ist nicht null‘.
Verbreitet er Krankheiten, beispielsweise die Tollwut?
Im Moment wird das noch auf die leichte Schulter genommen. Im Mittelalter war der Wolf aber außerhalb von Städten der Hauptüberträger von Tollwut. Wir sollten uns vielleicht überlegen, ob man die Wölfe dagegen impfen kann, wie jetzt schon etwa die Füchse. Da müsste man vorausschauender sein. Ein Problem wäre aber, wie. Eine Schluckimpfung wird schwer, weil der Wolf sehr vorsichtig ist.
Muss der Wolf weiter mit allen Mitteln geschützt werden?
Es gibt für den Artenschutz weltweit zwei Grundkonzepte. Einmal, die Natur sich selbst zu überlassen, das andere ist die nachhaltige Nutzung. Das kennen wir aus zahlreichen internationalen Beispielen: Tiere, aus denen der Mensch einen Nutzen zieht, die umsorgt er. Der Wolf muss geschützt werden, wir müssen dabei aber vielleicht deutlich flexibler sein und intelligentere Instrumente benutzen als bisher. Das vermisse ich hier in Sachsen etwas. Ein Extrem ist das Aussetzen von Wölfen, das andere das Bejagen. Beides ist aber in Deutschland tabuisiert, obwohl es wirksame Instrumente des Artenschutzes sind. Das ist auch der Grund für die Konflikte, die Diskussion wird nämlich nicht in der Breite geführt.
Wie wäre es denn besser?
Es werden keine Lösungen von unten, also von den Leuten vor Ort, nach oben, zu den Gesetzgebern, gesucht. Doch gerade die Betroffenen müssen mit einbezogen, alle Interessengruppen gehört werden. Wichtig ist, Konzepte zu finden, bei denen die Probleme der Leute ernst genommen werden. Diese Kultur fehlt in Deutschland noch, weil wir noch viel zu sehr von oben nach unten denken. Meine Empfehlung ist, die Verbände, die nichts anderes als Lobbyisten sind, außen vor zu lassen. Jäger bauen Naturschützer als Feindbild auf und umgekehrt. Emotionen und Vorurteile müssen aus der Diskussion rausgenommen werden. Dazu braucht es aber auch einen guten Moderator.
Interview: Lars Kühl