Von Thomas Mielke
Andreas Johne und Rainer Harbarth kennen den Zittauer Stadtrat seit seiner Neugründung 1990. Der amtierende CDU-Fraktionsvorsitzende und der langjährige Linken-Fraktionschef gehören ihm seit der ersten Stunde an. Als Dank für dieses 25-jährige ehrenamtliche Engagement durften sich beide Stadträte kürzlich ins Goldene Buch der Stadt eintragen. Die SZ sprach mit ihnen über die Veränderungen der Stadtratsarbeit in dieser langen Zeit:


Herr Johne, Herr Harbarth, in den 90er Jahren hat der Stadtrat wegweisende Entscheidungen gefällt. Ist er heute in der Bedeutungslosigkeit versunken?
Johne: Das kann man so nicht sagen. Allerdings waren die Entscheidungsspielräume und der Erwartungsdruck damals größer…
Harbarth: … nach 1990 war der Stadtrat eine Fortsetzung des Runden Tisches…
Johne: … damals hieß er ja auch noch Stadtparlament.
Harbarth: Damals konnten wir viele Themen selber einführen und bestimmen. Heute erfüllen der Oberbürgermeister und seine Verwaltung – zu der wir gehören – zu 70, 80 Prozent Aufgaben des Staates (Pflichtaufgaben). Nur der Rest sind Anliegen der Bürger. Zudem knebelt der Freistaat die Kommunen mit Fördermitteln. Er lenkt sie nach dem Motto „Ihr könnt das gern machen, aber habt ihr auch das Geld dafür?“.
Johne: Wenn dadurch Millionen in die Stadt fließen, ist das ein super Knebel. Trotzdem haben wir 90 Prozent der Fördermittel sinnvoll ausgegeben, zum Beispiel für die Sanierung des Abwassernetzes. Für die Sanierung der maroden Innenstadt sind seitdem mehr als 60 Millionen Euro ausgegeben worden.
Harbarth: Ja, ich muss zugeben, der Freistaat hat mit den Fördermitteln viel Wichtiges angeschoben. Wir als Stadtrat mussten letztendlich abwägen, ob und wie wir das umsetzen. Dabei kam und kommt es oft darauf an, welche Beschlussvorlagen uns der OB und die Verwaltung vorlegen. Meist sind wir uns dann einig gewesen. Wenn der OB uns überzeugen konnte.
Das kann nicht sein. In den letzten Monaten erinnerte der Stadtrat öfter an ein Kasperletheater, in dem es um persönliche Profilierung ging. Von Einigkeit war da wenig zu spüren.
Johne: Ja, da ist wohl was dran. Aber die Mehrheit der Stadträte will pragmatische Entscheidungen für die Stadt fällen. Grabenkämpfe werden eher außerhalb des Stadtrates geführt. Aber im Politikgetriebe, vor allem während Wahlzeiten, kommt es leider auch schon mal anders.
Harbarth: Es war nach 1990 viel schlimmer. Wir Linke wurden ausgebuht und angespuckt. Diese Emotionen, die ich durchaus verstehen kann, haben sich aber gelegt. Heute fällen wir Entscheidungen anhand sachlicher Gesichtspunkte. Mir persönlich ist zum Beispiel emotional völlig egal, ob auf dem Markt geparkt werden darf. Aber ich unterstütze das Bürgerbegehren.
Johne: Sie müssen dort auch nichts verkaufen. Aber auch 1990 wurde im Stadtrat weder gebuht noch gespuckt, das hätte Dr. Niescher als Präsident mit Sicherheit unterbunden. Ein wesentlicher Unterschied zu 1990 ist, dass der OB damals vom Stadtrat und nicht von den Bürgern direkt gewählt wurde. Das hatte die positive Nebenwirkung, dass er viel stärker auf den Stadtrat eingehen musste als heute.
Harbarth: Allerdings muss sich der OB auch heute noch Mehrheiten im Stadtrat suchen, damit er mit seinen Beschlüssen durchkommt. Dabei war Herr Johne immer im Vorteil …
Johne: … die CDU hatte nie die absolute Mehrheit im Stadtrat …
Harbarth: … gemeinsam mit der FDP schon. Aber was ich eigentlich sagen wollte: Die CDU als größte Fraktion war immer die Gruppe, die der OB als erste und wichtigste beeinflussen musste. Mit uns Kleinen hat er sich nie so beschäftigt. Zudem haben wir es wesentlich schwerer, eigene Ideen im Stadtrat durchzubringen. Wir müssen viel mehr Überzeugungsarbeit leisten.
Johne: … das muss wohl auch an den Ideen gelegen haben!
Herr Harbarth, Herr Johne, Hand aufs Herz: Haben Sie schon einmal einen Vorschlag anderer Fraktionen wegen der Parteilinie abgeblockt?
Johne: Nein, außer extremistischen oder demagogischen. Wir haben immer nach Sachgründen abgewogen.
Harbarth: Ich denke nicht. Im Gegenteil: Unsere Idee vom Radwegenetz haben wir mit der CDU besprochen und sie hat es mitgetragen. Aber ich habe nicht umsonst ins Goldene Buch geschrieben: „Ich habe 25 Jahre Demokratie erlebt. Wenn ich niemanden überzeugen kann,…“
Johne: … verliere ich die Abstimmung.
Harbarth: Obwohl wir viele Abstimmungen verloren haben, gab es deswegen nie persönliche Auseinandersetzungen.
Na, zumindest mit dem Ex-Stadtrat Hans-Joachim Wolf war das anders.
Johne: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.
Sie sagten, dass die Entscheidungen der Stadträte maßgeblich auf den Beschlussvorschlägen der Verwaltung basieren. Sollten nicht die Räte die Beschlüsse und Ideen einbringen, die von der Verwaltung umzusetzen sind?
Harbarth: Ja.
Johne: Da der Spielraum im freiwilligen Bereich immer kleiner wird und der Pflichtbereich dominiert, ist das aber anders.
Harbarth: Dazu kommt noch, dass die Fachkompetenz in der Verwaltung liegt. Ich als ehrenamtlicher Stadtrat kann die ganzen Vorschriften gar nicht kennen.
Johne: Die Stadtverwaltung ist verpflichtet, uns in die Lage zu versetzen, sachgerechte Entscheidungen treffen zu können.
Aber sollte die Initiative zu den Beschlüssen nicht vom Stadtrat kommen?
Johne: Ja, aber mit dem Beschluss des Haushaltes sind unsere Spielräume meist schon ausgeschöpft. Da gab es immer mehr Wünsche als Geld! Die PDS/Linke pflegte ja fast 20 Jahre dem Haushalt nicht zuzustimmen.
Harbarth: Wir haben schon so viel vorgeschlagen und beschlossen, aber wenn man das Geld dafür nicht hat …
Hat sich die Zusammenarbeit mit der Verwaltung verändert?
Harbarth: Egal, ob unter OB Kloß oder Voigt: Es gab kein Tabu in der Zusammenarbeit mit dem Stadtrat. Wenn ich in eine Abteilung der Verwaltung gehe, bekomme ich auf meine Fragen auch Auskunft.
Johne: Das muss sie nicht machen. Eigentlich muss uns nur der OB antworten. Sie sehen: Es gibt keine Konfrontation.
Harbarth: Verwunderlich ist für mich nur, warum sich die Bürger mit ihren Sorgen nicht an ihren Stadtrat, sondern an die Verwaltung wenden. Dabei sind wir doch ihre Lobby. Deshalb – und ich nehme an, Herr Johne schließt sich an – unser Aufruf: Gehen Sie öfter zu Ihrem gewählten Abgeordneten und nehmen Sie ihn in die Pflicht.
Ihrer Logik mit Pflichtaufgaben, engen Spielräumen und schmaler Kasse folgend, müsste Ihr Spielraum in den 90er Jahren deutlich größer gewesen sein.
Johne: Ja natürlich.
Harbarth: 75 Prozent des Geldes haben wir sinnvoll ausgegeben. Es ist in den letzten 25 Jahren viel in der Stadt passiert, auch wenn sicher noch viel mehr hätte passieren können.
Johne: Manches wird auch gar nicht mehr diskutiert, weil es politisch nicht verantwortbar ist. Ich sage nur hauptamtliche Kräfte bei der Feuerwehr und Theater.
Harbarth: Die Schwimmhalle in Hirschfelde macht so viele Miese, dass wir sie eigentlich schließen müssten…
Wenn Sie so wenig Spielraum haben, warum tun Sie sich das dann noch an?
Harbarth: Weil wir das Gefühl für die Stadt nicht verlieren und etwas bewirken wollen, wo es noch geht. Dazu gehört zum Beispiel die über zwei Millionen Euro teure Sanierung des Marktes.
Johne: Ich weiß nicht, wie viele Hunderte Beschlüsse wir in den 25 Jahren gefasst haben. 90 Prozent waren richtig und wichtig. Die Wähler haben mir das Vertrauen geschenkt, das möchte ich nicht enttäuschen.
Harbarth: Außerdem darf die Stadtverwaltung viele Dinge nicht machen, wenn sie der Stadtrat nicht beschließt.
Hat sich das Interesse der Bevölkerung an der Arbeit und den Entscheidungen des Stadtrates seit 1990 verändert?
Johne: Nein, nur bei persönlicher Betroffenheit.
Harbarth: Zu uns Linken kommen immer mehr Menschen wie ALG-II-Empfänger mit Problemen, zur Stadtpolitik kaum einer.
Sind in den 90er Jahre mehr Menschen zu den Ratssitzungen gekommen?
Johne: Nein, das ALG II ist aber Sache des Landkreises.
Harbarth: Nein, sie kommen nur bei persönlicher Betroffenheit. Seit 25 Jahren legen wir auch regelmäßig vor den Beschlüssen die Unterlagen zu Bauprojekten aus. Bis auf Einzelne hat sich nie jemand dafür interessiert. Dabei wäre es doch schön, die Meinungen zu kennen und in die Stadtratsdiskussion einfließen zu lassen.
Könnte der Stadtrat nicht über Online-Angebote, soziale Netzwerke und Ähnliches Aufmerksamkeit bekommen?
Johne: Ja, es gäbe sicher Mobilitätseffekte. Aber durch die Anonymität gibt es – vorsichtig formuliert – einen Qualitätsabfall.
Harbarth: Die Diskussionen im Netz bleiben nicht sachlich. Wenn wir als Stadtrat dorthin gehen würden, würden sich die Anonymen auf uns stürzen, jedes Detail zerreißen und uns beleidigen. Warum sind wohl so wenige Räte bei Facebook aktiv?
Johne: Deshalb lehne ich es ab, mit jemandem im Netz zu diskutieren, der anonym bleibt und der auch in Stralsund wohnen kann.
Harbarth: Aber alles, was über die Kanäle an uns herangetragen wird, greifen wir auf.
Welche Projekte sind in Ihren Augen die wichtigsten der kommenden Jahre?
Harbarth: Kitas, Schulen, Sicherheit. Allein bei den Kitas haben wir einen Investitionsstau von 6,7 Millionen Euro. Ganz aktuell die anstehenden Entscheidungen zur Klosterkirche.
Johne: Bei den Schulen ist das eine ähnliche Größenordnung. Für mich gehören noch die Sporthallen dazu.
Harbarth: Allerdings wird es schwer, die dafür nötigen Millionen zu organisieren.