Von Miriam Schönbach
Bautzen. Der Schacht in Granit gefasst wirkt unwirklich in der sandigen Mondlandschaft. Im Hintergrund wächst ein Mehrgeschosser aus der Erde. Friedrich Kemnitz schaut auf das Schwarz-Weiß-Bild von den Arbeiten im Neubaugebiet. Anfang 1978 wird der Weißenberger von seinem Betrieb, dem Bau- und Montagekombinat (BMK), auf die Großbaustelle an der Muskauer Straße delegiert. Eine Kaufhalle soll gebaut werden. Doch zuerst geht es um die Baufreimachung. Obstbäume müssen verschwinden. Und mitten im Gestrüpp holen die Bauarbeiter die Quelle hervor, die dem „Gesundbrunnen“ seinen Namen gibt.

Friedrich Kemnitz wundert sich seinerzeit nicht über die Entdeckung der Quelle. „Ich wusste, früher haben die Leute dort Wasser geschöpft“, sagt der 71-Jährige. Gemeinsam mit seinem Kollegen legt er den Brunnen frei. Angelegt wurde dieser angeblich bereits 1551 auf der damaligen Männerhospitalwiese, so jedenfalls vermerkt es Richard Reymann in seiner bekannten Bautzener Stadtchronik.
Der Zeitpunkt passt, denn die Medizin entdeckt in diesen Jahren gerade die Heilwirkung des Wassers bei Krankheiten unterschiedlichster Art. Das Baden im Thermalwasser oder – immer häufiger auch die Trinkkur – galt als Mittel gegen Haut- und Gelenkerkrankungen, bei Magen-Darm-Problemen oder Schlaganfällen. Die Suche nach Heilquellen war vielerorts erfolgreich, wie in Karlsbad oder Bad Elster.
Für einen heilsamen Schluck aus dem Brunnen haben die Bauarbeiter Jahrhunderte später aber keine Zeit. Stattdessen sollen sie die Quelle sogar zuschütten. „Ich wollte sie aber erhalten. Schließlich ist sie ein Andenken“, sagt Friedrich Kemnitz. Gemeinsam legen er und seine Mitarbeiter den Platz frei. Dabei fällt ihnen sogar im Mauerwerk noch eine alte Flasche in die Hände. Die Öffnung ist mit Wachs verschlossen. Neugierig öffnen die Männer ihren Fund. Die Dokumente, die sie aus dem engen Flaschenhals ziehen, sind trocken. Der Bauleiter ruft Erich Lodni, den damaligen Leiter der Bautzener Bibliothek, an und übergibt ihm den Fund. Die Unterlagen – so erinnert sich der Weißenberger – stammten von der letzten Sanierung der Anlage Anfang des 20. Jahrhunderts.
Bleitafel als Fundstück
An eine Heilwirkung des Gesundbrunnens glaubt zu dieser Zeit schon niemand mehr – anders als in den Jahren zuvor. Damals pilgern die Menschen regelrecht an den Stadtrand. Ein besonders eifriger Nutzer des Wassers ist Karl Siegmund Bornemann (1781-1852). Der gebürtige Großenhainer kommt 1812 nach Bautzen und wird Direktor der Bürgerschule. Laut Reymann wandert er – egal ob Sommer oder Winter – täglich vor dem Unterricht hinaus und genießt das kühle Nass. Auf Initiative Bornemanns wie auch des späteren Bürgermeisters Adolf Traugott Eduard Starke wird 1837 eine Sammlung zum Erhalt des Brunnens initiiert. 1845 wird die Anlage für 40 Taler und vier Groschen saniert.
Schuldirektor Bornemann stirbt sieben Jahre später. Im evangelischen Kirchenregister St. Petri findet sich als Todesursache: ein Blasenleiden. 1879 wird der Brunnen abermals restauriert. Dabei kommt eine kleine Bleitafel in Latein ans Licht, die wohl der ursprüngliche Erbauer Johann Röhrscheidt dort anbringen ließ. Das Fundstück landet im Stiebermuseum, das 1869 als „Alterthumsmuseum der Stadt Bautzen“ im alten Bürgerschulgebäude am Wendischen Graben eingerichtet wird. Heute gilt es als verschollen.
Statt der Bleitafel lassen die Stadträte damals in den Querstein über der Quelle die Inschrift hauen: „Dieser Brunnen wurde von Johann Röhrscheidt 1551 auf eigene Kosten erschlossen und zum allgemeinen Gebrauch überlassen.“
Einen eigenen Verein gegründet
Genau vor diesen Worten stehen 1978 nun die Bauarbeiter des BMK. Der Bautzener Fotograf Rolf Dvoracek hält die Situation fest. Dann lässt Friedrich Kemnitz Schachtringe von einem guten Meter Durchmesser bringen. Zehn Stück werden aufeinandergestellt. Ein Niveauunterschied von bis zu acht Metern an dieser Stelle muss ausgeglichen werden. Eingebettet wird die Fassung in Kies aus der Grube in Kleinsaubernitz. „Das war bester Betonkies“, sagt der ehemalige Bauleiter.
Die Quelle verschwindet verschlossen unter einem unscheinbaren Schleusendeckel. Die Kaufhalle wird gebaut. Bald erinnern sich nur noch wenige an den Brunnen, der dem Neubaugebiet seinen Namen gab. Das ändert sich, als viele Jahre später Diethold Tietz die Initiative ergreift. Der längjährige Einwohner ist bekennender „Gesundbrunnler“ und gründet unter anderem einen eigenen Verein fürs Wohngebiet. Deshalb lässt ihm die Frage keine Ruhe, an welcher Stelle der Brunnen unter der Erde verschwunden ist.
Auf seinen Aufruf hin meldet sich Friedrich Kemnitz und führt ihn im Frühjahr 2006 auf den Aldi-Parkplatz an der Muskauer Straße. „Es gab zwei Schächte, einen fürs Abwasser, den anderen für die Quelle. Ich musste nach so langer Zeit auch schauen, welcher der richtige ist“, sagt der Weißenberger. Nach wenigen Minuten wird er fündig. Drei Fahrzeuge der Bautzener Feuerwehr rücken an, um den Schacht leerzupumpen. Nach einer Stunde die Gewissheit, die Inschrift in Granit zeigt, dass die Suchenden an der richtigen Stelle sind.
Inzwischen ist der Gullideckel längst wieder verschlossen. Doch die Quelle, die dem Stadtteil seinen Namen gab, sprudelt unterirdisch weiter leise vor sich hin.
Und hier gibt es die ersten Teile der Serie: