Von Andreas Rentsch
Der Ausflug in die Geschichte beginnt mit dem Anprobieren einer Uniform. Erdfarbenes Hellbraun, keine Abzeichen. „Sie sind ein einfacher sowjetischer Soldat“, hat mir Regina Fraß erklärt, als sie mir Jacke und Hose, Gürtel, Stiefel und Mütze mit rotem Stern aushändigte. Den Festumzug zur 800-Jahr-Feier Dresdens werde ich also als siegreicher „Besatzer“ erleben. 11.30 Uhr ist es, als ich auf der Pieschener Allee meinen Kameraden die Hand schüttele.
Annett Lindner ist eine der ersten. Die junge Frau steckt in einer grünen Uniform eines Offiziers. „Es gab schon einige, die uns als nicht echte Russen identifiziert haben“, sagt die 26-Jährige und lacht. Im richtigen Leben arbeitet sie wie Regina Fraß in einem Autohaus in Ottendorf-Okrilla. Helmer Schreyer, der Seniorchef der Firma, hat ein Faible für historische Fahrzeuge. Deshalb rollt heute sein Ural 4320, ein olivgrüner, dreiachsiger Diesel-Laster. Den Konvoi komplettieren ein GAZ-69-Jeep, zwei Dnepr-Motorräder mit Beiwagen, ein Pferdegespann und ein Soldat auf einem Fahrrad. Das ist die ruhmreiche Armee, die heute in der Stadt an der Elbe einrückt.
Papyrossi, Jabloko, Wasser
„Habt Ihr die Papyrossi?“, fragt Fraß. An alles ist gedacht. Eine leere Moskovskaja-Flasche wird mit Wasser gefüllt, „Jabloko“-Konfekt verteilt. Einer der einfachen Soldaten bekommt einen Kopfverband, der mit Ketchup beschmiert wird. Aus dem Megafon hinter dem Fahrerhaus plärrt Folklore, „Kalinka“ und „Katjuscha“. Es sind alte Bekannte, die sich hier treffen, Mitglieder einer Szene, die dem selben Hobby frönt. Andreas Haupt aus Thiendorf, heute im Rang eines Oberstleutnants, hatte Anfang der 90er Jahre oft Armeeangehörige bei sich zu Gast. Einige von denen, die seinerzeit vom Militärflugplatz in Großenhain in Richtung Heimat abhoben, kannte er persönlich. Erst kaufte er die Uniform mit den zwei Sternen auf jedem Schulterstück, dann einen UAZ. Inzwischen fährt er regelmäßig zu Paraden und Treffen. Seine Frau Irene begleitet ihn. „Beim Tag der Sachsen“ waren wir auch schon“, erzählt sie.
Tanzen, lachen, schreien
14.15 Uhr kommt endlich der Befehl zum Aufsitzen. Der Ural bollert, ruckelt und setzt sich langsam in Bewegung. Regina Fraß klappt ihr Mobiltelefon zu und schiebt es zurück ins Pistolenhalfter. „Wir sind verspätet.“ Vorerst scheint das die Besatzung nicht zu stören. Gerd Hachenberger aus Jessen stimmt im Minutentakt ein neues Volkslied an, sein Bruder Bernd reicht eine Flasche Doppelkorn herum. Ob die Stimmung unter den Militärs im Frühjahr 1945 auch so gelöst gewesen ist? Als Bild Nummer 47 rollt die „Zerstörung Dresdens“ vornweg. Auf dem Sattelauflieger des Lkws steht eine Glocke aus Lauchhammer. Eine Schautafel zählt die Flugzeuge, Bomben und Toten des 13. Februars auf. Hin und wieder weht der Wind Geläut herüber.
Dahinter tanzen Soldaten, schlenkern mit den Beinen und rudern mit den Armen. „Nasdorowje!“ brüllt Offizier Frank Grande, hebt die Wodkaflasche und nimmt einen Schluck. Die Menschen am Straßenrand lachen und schreien zurück: „Sto gram!“ Dicht gedrängt stehen sie entlang der Strecke, manche sitzen auf Autodächern, Dixie-Häuschen, Bäumen. So groß ist die Menge, dass nur eine schmale Gasse für den riesigen Laster bleibt. Regina Fraß klatscht begeistert im Takt der Musik, hat sich Papyrossi hinters Ohr geklemmt. „Schön, dass Ihr wieder da seid!“, ruft ein Mann vom Straßenrand.
Regenwolken schieben sich von Westen heran, als der Militärkonvoi auf die Magdeburger Straße einbiegt. Beim alljährlichen Umzug des Dixieland-Festivals, erzählt Annett Lindner, sei der Ural auch schon mitgefahren. „Damals hatten wir eine große Fahne auf die Motorhaube drapiert, mit einer Friedenstaube darauf.“ Doch das ist eine andere Geschichte – aus einer Zeit, die nach Bild 48 beginnt.