Wölfe spazieren durchs Neißeland

Neusorge und die Wölfe – das ist eine besondere Beziehung. „Vor zehn oder auch noch vor fünf Jahren hat man gar nicht gemerkt, dass sie in den Wäldern rund um unseren Ort leben“, erzählt Siegfried Steinert.
Jetzt aber sei ihr Geheul fast jeden Tag zu hören. Und sie selbst zu sehen. „Die Populationsdichte ist in den vergangenen Jahren enorm angestiegen. Wir bekommen das hier unmittelbar zu spüren.“ Das bestätigt auch Jens Schurig, Ortsvorsteher in dem kleinen, zu Rothenburg gehörenden Dorf. „Es ist noch nicht lange her, da wurden wir Nachts gegen zwei aus dem Schlaf gerissen“, erzählt er von einem einprägsamen Erlebnis. „Ein Rudel Wölfe tummelte sich direkt unter unseren Fenstern. Das ging natürlich nicht lautlos ab.“ Für ihn steht deshalb fest: „Die Tiere haben sich an die Nähe menschlicher Siedlungen gewöhnt.“
Wölfe sind etwa seit dem Jahr 2000 wieder in der Lausitz heimisch. Bis zur Wende galt die Art auf dem Territorium der DDR als jagdbar, nach der Übernahme des in der Bundesrepublik geltenden Schutzstatus waren die Voraussetzungen günstig, dass sich die grauen Jäger auch an der Neiße wieder ausbreiten würden. Dies haben sie zuletzt immer erfolgreicher getan. Und sich dort Futter gesucht, wo es am leichtesten zu erbeuten war – vor einigen Wochen sogar bei einem Schafhalter in Girbigsdorf, kurz vor den Toren von Görlitz. Mittlerweile ist ein politischer Streit darüber entbrannt, wie man mit den Wölfen umgehen soll. Landrat Lange meint gar, das sei wahlentscheidend am 26. Mai.
Auch im Raum Rothenburg kommt es immer wieder zu fast hautnahen Begegnungen mit Isegrimm. Von einer weiß Ingeborg Stollberg zu berichten. Sie war am 1. Mai mit dem Fahrrad unterwegs und fuhr am Nachmittag, aus Richtung Klein Priebus kommend, in Steinbach ein. „Da stand auf einmal ein offenbar älterer, zerzauster Wolf. Er blieb einfach da, auch als er mich sah. Er setzte sich sogar hin und beobachtete mich.“ Sie selbst setzte ihren Weg in großem Bogen über die Wiese fort – den grauen Jäger immer im Blick.
Aus unmittelbarer Nähe hat auch Hans Weber schon mal einen Wolf erlebt. „Ich sah zum Küchenfenster hinaus. Etwa 50 Meter davor lief einer übers Feld. Ein Auto, das vorbei fuhr, störte ihn überhaupt nicht.“ An „rege Unterhaltungen“ verschiedener Rudel erinnert sich Manuela Dittmann. „Wir lagen noch gar nicht lange im Bett, da ging das Geheul los, direkt unter unserem Balkon.“ In einiger Entfernung hätten weitere Tiere in den Chor eingestimmt. „Als ob sie sich etwas zu sagen hätten.“ Außerdem schlügen die Hunde im Dorf bei solchen Gelegenheiten oft mit an.
„Wer das einmal live erlebt hat, der überlegt sich, ob er noch nach draußen oder gar in den Wald gehen will.“ Das, meint Ingrid Käsche, gehe gar nicht mehr. „Allein Blaubeeren oder Pilze sammeln, ist viel zu gefährlich. Die Wölfe haben ja jede Scheu verloren.“ Das belegt auch ein Video, das sich die Neusorger von Handy zu Handy weitergeschickt haben und das ein Jäger von einem Ansitz ganz in der Nähe aufgenommen hat. Die Anwesenheit des Menschen stört die unten hin und her jagenden Wölfe nicht. Sie spielen, scheinen sich zu necken. Wie viele es sind, ist schwer zu erkennen. Sieben oder acht – wahrscheinlich mehr, als ein Rudel Mitglieder hat.
Dass die Wölfe keine Fressfeinde haben und sich hauptsächlich an wildlebenden Huftieren gütlich tun, kann Ingrid Käsche auch anhand ihrer eigenen Beobachtungen belegen. „Wir hatten bei Neusorge noch vor Jahren eine stattliche Rotwildherde mit vielleicht 40 oder 50 Tieren. Wenn sie abends auf den Wiesen standen, konnte man sie gut beobachten.“ Davon sei nichts mehr übrig geblieben. Ähnlich verhalte es sich mit den Rehen. „Da freuen wir uns schon, wenn noch zwei oder drei zu sehen sind.“ Jäger hätten ihr diese Beobachtungen bestätigt. Siegfried Steinert weiß sogar von einem Waldweg kurz hinter dem Ort, der im Volksmund nur noch Kadaverweg heißt. Denn: „Da liegen immer wieder gerissene Tiere. Wahrscheinlich fühlen sich die Wölfe hier besonders ungestört.“
Natürlich gehöre auch der Wolf zur hiesigen Fauna, sagt Ingrid Käsche und will gar nicht erst den Vorwurf aufkommen lassen, sie und die anderen Neusorger seien dafür, die grauen Jäger wieder auszurotten. Allerdings dürften sie nur in solchen Mengen vorkommen, die für Reh, Rotwild, aber auch für Schafherden und schließlich den Menschen erträglich seien. „Wir sind nun einmal nicht in Kanada, wo es endlose Weiten gibt, der Wolf also kaum jemandem in die Quere kommt. Deutschland hat diesen schier unerschöpflichen Lebensraum nicht.“ Zumal die Tiere sehr schnell lernen würden. „Wenn dir ein Wolf furchtlos gegenüber steht und du in der Dämmerung schon auf das Geheul der Rudel wartest, dann wird dir anders. Das kann einer aus der Stadt nur schwer verstehen.“ Zumal sie auch noch eine andere Vermutung als Grund für die abnehmende Scheu der Wölfe gegenüber dem Menschen hat. „Ich denke, dass es inzwischen einige Hybriden aus der Verpaarung von Wolf und Hund gibt. Wären es reine Wildtiere, würden sie den Kontakt zum Menschen meiden und nicht einfach durch einen Ort wie Neusorge spazieren.“ Doch das ist nicht bewiesen.
Das Wolfsgeheul wird den Einwohnern also auch künftig erhalten bleiben – bis, so hoffen sie, die Politik endlich reagiert und Isegrimm in das Jagdrecht aufnimmt. Dann würden sich viele Probleme von alleine lösen.
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