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Wut der Menschen wird systemgefährdend

„Die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu verblöden, ist unbegrenzt.“ Und: „Aus Politikerverdrossenheit wurde Politik- und schließlich sogar Systemverdrossenheit. Schon wünscht sich mancher wieder eine neue Diktatur.

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Von Kathrin Krüger-Mlaouhia

„Die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu verblöden, ist unbegrenzt.“ Und: „Aus Politikerverdrossenheit wurde Politik- und schließlich sogar Systemverdrossenheit. Schon wünscht sich mancher wieder eine neue Diktatur. Und die Wut der Menschen wird systemgefährdend.“ Der dies speziell auf Ossis gemünzt sagt, ist keiner, der sie verachtet. Nein, Friedrich Schorlemmer mag die Menschen. Er ist einer der menschlichsten Intellektuellen dieses Landes. Diesem Ruf wurde er am Sonntag bei den 5. Zabeltitzer Gesprächen wieder gerecht. Mehr als 100 Gäste wollten den 60-jährigen Wittenberger Theologen hören. Und Schorlemmer referierte analytisch brillant und dennoch mit der ihm eigenen Lockerheit wie in familiärer Runde.

Was die Zuhörer an ihm lieben, ist seine Direktheit, mit der er vielen aus der Seele spricht - Kritik herausfordernde Aussagen nicht scheuend. „Seit die DDR weg ist, bin ich viel mehr DDR-Bürger“ ist so eine Aussage. Die meint Schorlemmer ernst. Freilich war er als Kirchen- und Umweltmann einer der größten Kritiker des kommunistischen Systems. Aber rückblickend steht er auch dazu, dass ihn die Zeit im Osten mehr als die Zeit heute geprägt hat. Dass das Leben früher einfach im positiven Sinne ernsthafter war.

Die Würdigung der deutschen Einheit fällt bei ihm trotzdem kurz aus. So wichtig es ihm auch ist, sich über die dabei errungene Freiheit zu freuen. Doch für den Menschenrechtler Schorlemmer kommt gleich danach und untrennbar damit verbunden die Gerechtigkeit. „Chancengleich für alle, das heißt das Recht auf Arbeit“ fordert er dafür noch immer ein. Statt dessen würde sich das Land teilen in die, die abgeschrieben sind, und die, die abschreiben dürfen... Die Arroganz der Mächtigen, auch innerhalb seiner Partei, der SPD, bringt Schorlemmers Blut in Wallung: „Die sollten sich doch wirklich mal vorstellen, was es bedeutet, mit 341 Euro im Monat zu leben!“

Friedrich Schorlemmer hat auch kein Problem damit zu formulieren, dass das Volk im Zweifelsfalle immer belogen wird. „Die Wahrheit ist die Ausnahme“, ist seine Auffassung. Doch Zyniker ist der Publizist und protestantische Prediger nicht. Eher Realist. Weil er die Dinge zuerst durch eine sinnsuchende und menschliche Brille zu betrachten scheint, nicht aber durch eine politische, gibt er unumwunden zu, von Dr. Karl Marx (er nennt ihn anerkennend Karl der Große) dessen analytisches Rüstzeug zur gesellschaftlichen Kritik gelernt zu haben.

Seine Zukunftsprognosen fallen deshalb nicht sehr positiv aus. Auch als es an die Beantwortung der zahlreichen Zuhörerfragen geht. Schorlemmer teilt die Einschätzung von der herrschenden „Wirtschaft, die arm macht“. Einen Grund dafür hat wohl schon Martin Luther erkannt: Die Menschheit ist in ihrer Habsucht ersoffen. Doch Fülle des Lebens ist eben nicht gleich Fülle der Dinge. Schorlemmer: „Der Mensch ist mehr als ein Dauerlutscher.“ Seit Rat deshalb: „Klar sehen und doch hoffen.“ Was schon 1989 als Chance verpasst wurde, müsse nun endlich angepackt werden: neue Verteilungsmechanismen für den gesellschaftlichen Reichtum zu finden. Hartz IV sei nur eine unzureichende Reparaturmaßnahme.