Zehn Jahre RB: Leipzigs erstes Tor schoss ein Dynamo

Er war noch nie da, nicht im Zentralstadion, das längst Red-Bull-Arena heißt, und auch nicht im schmucken, modernen Trainingszentrum gegenüber. „Ich habe damit abgeschlossen“, sagt Robert Scannewin. Mit „damit“ ist seine Vergangenheit bei Rasenballsport Leipzig gemeint. Er sagt das nicht im Groll. Die Rückschau ist nur nicht die bevorzugte Blickrichtung des Fußballers. Diesmal macht er eine Ausnahme. Und die lohnt sich.
Am Sonntag feiert sein Ex-Verein seinen zehnten Geburtstag, hat sich zum zweiten Mal für die Champions League qualifiziert, steht im Finale des DFB-Pokals. Der Aufstieg von der fünften Liga in die Königsklasse in kürzester Zeit ist genauso außergewöhnlich wie der gesamte Verein. Ganz am Anfang spielt der Dresdner Scannewin mit – und beim ersten Punktspiel sogar die Hauptrolle, als er das erste und einzige Tor für RB schießt. Die Gegner damals heißen nicht Bayern München und Borussia Dortmund, sondern VfB Pößneck und 1. FC Gera. Gespielt wird nicht in der Red-Bull-Arena, sondern im Stadion am Bad in Markranstädt. Und an ein stylisches und 30 Millionen Euro teures Trainingszentrum ist nicht zu denken.
Ein Jahr ohne Vereinslogo
„Es waren angehende Profibedingungen damals“, erinnert sich Scannewin. Die Anfänge passen so gar nicht zur Weltmarke Red Bull, die nichts dem Zufall überlasst, beim Ausbau ihrer Fußball-Aktivitäten aber improvisieren muss. Als nach jahrelangem Hin und Her mit dem SSV Markranstädt endlich ein Partner in Deutschland gefunden wird, der bereit ist, die Oberliga-Lizenz gegen ein üppiges Trennungsgeld abzutreten, muss plötzlich alles ganz schnell gehen. Beim Trainingsauftakt am 2. Juli läuft die Mannschaft in Trikots aus Salzburg rum. Die Bälle stammen von verschiedenen Herstellern. Das Vereinslogo wird sogar mit einem Jahr Verspätung präsentiert, weil den Sächsischen Fußballverband das ursprüngliche zu stark an die Red-Bull-Optik erinnert. Es wirkt, als käme der nahende Saisonstart etwas überraschend.
Selbst die Mannschaft, die laut den Vorschriften des Verbandes zu 50 Prozent vom SSV Markranstädt kommen muss, ist nicht komplett. Auch Scannewin fehlt noch. Er steht damals bei der U 23 von Bayer Leverkusen unter Vertrag, ist aber unzufrieden, druckt seinen Lebenslauf auf eine Red-Bull-Dose und bewirbt sich damit beim neugegründeten Verein. Das Probetraining dauert zweieinhalb Tage. Chefcoach Tino Vogel fehlt allerdings wegen einer Lungenentzündung. Scannewin unterschreibt trotzdem einen Vertrag. Als er das erste Mal auf seinen Chef trifft, fragt Vogel ihn: „Wer bist du? Ich brauche dich nicht!“ Ein rundum gelungener Einstand also.

Trainiert wird anfangs größtenteils in der Fußballschule Egidius Braun in Abtnaundorf im Norden von Leipzig. Der Rasen in Markranstädt ist nach einem Säureanschlag beschädigt. Es blieb nicht der einzige Angriff der Gegner des Brauseklubs. Am Tag vor der ersten Pressekonferenz drohen Anrufer mit einem Brandanschlag. Die ersten drei Testspiele werden aus Angst vor Übergriffen abgesagt.
Beim ersten Oberliga-Auftritt auf einem Nebenplatz des Ernst-Abbe-Sportfeldes in Jena ist die Lage „wirklich brenzlig“, wie sich Scannewin erinnert. „Da gab es keine Zäune. Die wütenden Fans standen direkt neben der Seitenlinie und davor vielleicht vier oder fünf Ordner.“ Bierbecher fliegen auf den Platz, Tomaten und Eier an den Mannschaftsbus. Die Spieler fahren ungeduscht zurück nach Leipzig. Für Scannewin bleibt es nicht nur deshalb ein besonderes Erlebnis. Lange liegt RB 0:1 hinten. Kurz nach seiner Einwechslung erzielt er den Endstand – der erste Torschütze in der Punktspielhistorie von RB.
Extra-Motivation durch Proteste
In Erinnerung bleiben aber auch die Anfeindungen, nicht nur in Jena. „Mich hat das eher gepusht. Ich konnte da noch mal zehn Prozent mehr rauskitzeln“, sagt der inzwischen 33-Jährige, der unter Peter Pacult zwei Zweitliga-Einsätze für Dynamo bestritten hat und nun für den FV Dresden 06 Laubegast in der Landesklasse Ost spielt. Auch der Rest der Mannschaft sei damit entspannt umgegangen. „Das hat uns eher noch zusammengeschweißt.“
Im Gegenzug erhalten die Spieler ein Schmerzensgeld, das nicht unbedingt branchenüblich ist. Wie viel es genau ist, will Scannewin auch zehn Jahre später nicht verraten, nur so viel: „Es gab damals sicher Fünftligisten, die ähnlich gut bezahlt haben. Aber es war schon gutes Geld, jedenfalls mehr als bei der U 23 von Leverkusen. Und die Ex-Bundesliga-Profis haben deutlich mehr bekommen.“
Zu denen gehören Ingo Hertzsch und der Ex-Schalker Thomas Kläsener. Der Qualitätsunterschied zwischen ihnen und dem Rest der Markranstädter Oberliga-Truppe ist gewaltig. Das führt anfangs zu Spannungen. Erst im Verlauf der Premierensaison rückt die Mannschaft enger zusammen und schafft den Aufstieg in die vierte Liga.
Scannewin ist da schon nicht mehr dabei. Nach nur sechs Einsätzen wird er in der Winterpause in die zweite Mannschaft degradiert. Nach der Saison geht er zum SSV Markranstädt, wo er bis 2013 bleibt. „Ich habe an der falschen Stelle die Klappe aufgemacht, kritische Fragen gestellt und mir das selber versaut“, gesteht er.
Den rasanten Aufstieg der Rasenballer verfolgt er nur noch aus der Ferne. Überrascht hat er ihn nicht. „Es gab schon zu meiner Zeit den Traum, in zehn Jahren in der Bundesliga zu spielen“, erinnert er sich. Es ging sogar ein bisschen schneller. „Sie machen keine Kompromisse, setzen auf junge Spieler, und unter Ralf Rangnick hat das alles noch mal richtig Fahrt aufgenommen. Ich freue mich, dass der Osten wieder eine Bundesliga-Mannschaft hat.“

Damit ist es aber auch genug mit dem Blick in die Vergangenheit. Sentimentalitäten sind überhaupt nicht sein Ding. Deshalb ärgert er sich auch nicht, dass RB seinen ersten Punktspiel-Torschützen offenbar vergessen hat. Andere Ex-Profis werden bei den Heimspielen schon mal in der Halbzeitpause interviewt. Scannewin hat noch keine Einladung bekommen. „Die Frage ist doch: Kennen die Leute, die jetzt im Verein arbeiten, überhaupt die Vergangenheit, beschäftigen die sich mit den alten Geschichten?“
Lesen Sie im nächsten Teil: Warum RB Leipzig auch nach zehn Jahren für viele Fans noch ein Feindbild ist.