Frau Rönitzsch, Sie leben in der geografischen Mitte Indiens, in der 2,4-Millionen-Stadt Nagpur. Wie viele Menschen haben Sie heute schon getroffen?
Schon ziemlich viele. Gestern waren regionale Wahlen. Ich habe gleich früh auf dem Weg ins Büro rund 300 Männer auf einem Platz gesehen, die zusammen feierten. Frauen aber waren keine da.
Welche indischen Dinge nutzen Sie gern?
Das Essen! Wir haben eine Köchin, die für uns tolle regionale Speisen kocht. In Deutschland ist oft nur die nordindisch-pakistanische Küche bekannt. Außerdem bin ich im Kleidungsstil voll drin: Die Frauen tragen knielange Oberteile oder Kleider, immer mit Leggins oder dünnen Hosen. Dazu Armreifen in passenden Farben und zwischen den Augen die Bindis, als gemalten Punkt oder aufgeklebten Schmuck.
Seit Oktober sind Sie dort. Freiwilligendienst leisten Sie über den Verein Deutsch-Indische Zusammenarbeit. Was tun Sie?
Ich arbeite bei der lokalen Organisation CRTDP im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. CRTDP steht für Programme der ländlichen Entwicklung. Das Angebot ist für Dörfer um Nagpur und für Slumgebiete in der Stadt gedacht. Ein Konzept für meine Aufgaben gibt es nicht. Die Ideen für meine Tätigkeit entwickle ich selbst oder im Gespräch mit Mitarbeitern.
Was waren bisher die härtesten Brocken, die Sie erlebt haben?
Gleich in der ersten Woche besuchte ich ein Wohnheim für ehemalige minderjährige Prostituierte. Es gab gerade einen Streit zwischen den Mädchen. Eins schmiss sich gegen eine Wand, dann schlug es immer wieder seinen Kopf dagegen. Das nahm mich mit: Was musste die junge Inderin schon erlebt haben, dass sie so verzweifelt reagierte? Vor gut vier Wochen war ich auch bei der arrangierten Hochzeit eines Freundes dabei. Das Fest war schillernd und schön. Er aber sah unglücklich aus. Wie es der Braut ging, konnte ich nicht einschätzen. Sie traf ich das erste Mal. Insgesamt sehe ich das Thema der arrangierten Ehen gespalten. Es gibt viele Paare, die trotzdem glücklich sind.
Auf Ihrem Blog berichten Sie über ein Kind, dessen Mutter bei einem Mitgiftmord starb…
Ja, seine Oma brachte es mit ins Büro, als sie unsere Hilfe suchte. Es hatte mit vier Jahren die schreckliche Tat miterlebt, die der Vater verübte. Mitgiftzahlungen sind seit 1961 verboten. Trotzdem werden Frauen und ihre Familien nach wie vor unter Druck gesetzt, wenn sie keine leisten.
Sie lernen alle Arbeitsfelder Ihrer Organisation kennen. Projekte gegen Aids gehören dazu, eins ist speziell für Jugendliche gedacht. Wie sieht es aus?
Es ist ein Rehabilitationsprojekt für HIV-Infizierte und Jugendliche, deren Eltern erkrankt sind. Sie erhalten kostenfrei Ausbildung, Unterkunft und Krankenversicherung. Ihre Familien werden ebenso toll entlastet. Sonst müssten die Kinder mit für den Unterhalt ihrer geschwächten Eltern sorgen und könnten sich nicht um ihre Ausbildung kümmern.
Im Mix aus Tradition und Moderne sind Sie selbst drin: So fahren Sie in einer Rikscha aufs Land, die einem Dorfarzt gehört, um Computerunterricht zu geben. Was fällt Ihnen sonst auf?
Das Land ist riesig. Die Gastfreundschaft in Nagpur ist unübertroffen, die Hilfsbereitschaft groß: Einmal zapfte ein professioneller Rikscha-Fahrer Sprit von seinem Mobil für uns ab, als wir liegen geblieben waren. Ein anderes Mal riefen Fremde direkt am Straßenrand jemanden an, der unsere Rikscha reparieren konnte. Er war nach fünf Minuten da und half umsonst. Was sonst auffällt: Zeit hat Orientierungswert. Die Menschen leben im Hier und Jetzt. Sie können unwahrscheinlich gut reflektieren. Egal, wen ich was frage, eine Antwort ist mir sicher.
Das Gespräch führte Dorit Oehme.