Von Jörg Bernig
Vorbemerkung: Der nachfolgende Text wurde vor den Pariser Mordanschlägen vom 13. November geschrieben. Die Berichterstattung darüber hat das Erscheinen dieses Textes verzögert. Nach den Anschlägen äußerte sich die deutsche politische Elite sogleich belehrend darüber, das eine nicht mit dem andern zu verhandeln. Das ist falsch und Ausdruck kultureller Unwissenheit. Wir müssen über alles reden. Das wird weh tun. Es tut jetzt schon weh. Dennoch.

Eine Bekannte berichtete, wie ihr die Verkäuferin eines Supermarktes hier erzählte, dass ein Mann seinen Einkauf an der Kasse mit einem gezückten Messer beglichen habe. Anweisung der Geschäftsführung: Keine Polizei rufen. Das sei ein „Bagatelldelikt“. Das hört sich nach Gerücht und „urban myth“ an. Wer weiß. Aber: Eine Frau, 20 Jahre, auf dem Heimweg überfallen, mit einem Messer bedroht und ausgeraubt. Bei mir in der Straße. Und dann der Anruf eines Freundes: Seine junge Kollegin sei in Dresden am helllichten Tag in Sichtweite ihrer Arbeitsstätte überfallen, vergewaltigt und mit Glasscherben schwer verletzt worden.
Der Polizeibericht vermerkte in den zwei angezeigten Fällen, dass die Täter Männer „südländischen Typs“ seien. Ich sprach mit einem Kriminalpolizisten über das, was ich binnen kurzem erfahren habe – und musste. Er sagte, dass er mir nicht erzählen dürfe, was tatsächlich alles vorfalle. Ich habe Bekannte, die mir sagten, dass ich so etwas nicht schreiben dürfe, weil es rassistisch sei oder aber rassistische Ressentiments bediene…
Einzelfälle, die nicht zur Verallgemeinerung taugen? Vielleicht. Auch wenn sich die Einzelfälle innerhalb weniger Tage und in engem Umkreis ereignen? Vielleicht. Aber wir nehmen die Welt zunächst in Einzelheiten wahr, setzen daraus dann wiederum die Welt zusammen.
Zorn allenthalben. Zorn angesichts der Situation, die auch mit den immer zahlreicher ins Land kommenden Menschen zu tun hat. Und dies sind eben nicht vorrangig, wie wir es uns wünschten, Familien, die sich vor Krieg und Verfolgung in Sicherheit bringen wollen und denen wir Aufnahme auch gern gewähren. Nein, es sind oft allein erscheinende Männer. Ist es eine böse Frage, ob diese Männer dort, wo sie herkommen, nicht bei der Verteidigung von Leib und Leben der Zurückgelassenen fehlen? Ich weiß es nicht. Es gibt wohl keine einfache Antwort auf diese Frage.
Zorn angesichts der Probleme, die das schlicht Ökonomische weit hinter sich lassen. Als ließe sich alles aufs Geld reduzieren, hören wir von Kosten für Unterkünfte, aber auch von höheren Gewinnen für den Einzelhandel, weil die Neuankömmlinge ja konsumieren. Und wir hören von Wirtschaftsvertretern, die sich über neue Fachkräfte freuen. Und schließlich hören wir von Finanzexperten, die überall nur künftige Steuerzahler sehen.
Aber wir hören nichts von Kultur. Als hätte es Samuel P. Huntingtons These vom „Clash of Civilizations“ nie gegeben. Der Grund für die Abwesenheit einer kulturellen Debatte liegt in der ökonomischen Fixierung – bei gleichzeitiger Unkenntnis der Komplexität von Kultur, einschließlich nicht zu verleugnender kultureller Gegensätze. Für nicht wenige der in Deutschland Regierenden scheint Kultur nichts weiter als ein Konzertabonnement zu sein. Kultur regelt aber grundlegend das Zusammenleben. Sie positioniert sich gegenüber der Anwendung von Gewalt, ja, bringt die Anwendung von Gewalt hervor oder unterdrückt und ächtet sie. Unsere Kultur nimmt die Gleichberechtigung der Frauen und Mädchen als Grundlage. Unsere Kultur ist in langen und blutigen Konflikten zu dem Punkt gekommen, dass wir die Überzeugungen und Konfessionen anderer gefälligst auszuhalten haben, auch wenn wir sie ablehnen.
All das kann die politische Elite augenscheinlich nicht erfassen. Sie hat mit ihrem unwissenden Agieren dafür gesorgt, dass neben vielen, die unseres Schutzes würdig sind, offenbar nicht wenige die Gunst der Stunde nutzen und in unser Land kommen, die unsere Kultur, unsere Art zu leben und unsere Formen des Respektes ablehnen. Ihnen ist es bereits jetzt gelungen, die warme Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft abkühlen zu lassen.
Welch Zorn darüber, dass die Bundesregierung die Souveränität des Staates beiseite wischte und zum massenhaften un- oder kaum kontrollierten Grenzübertritt einlud, ja, aufrief. Die Bundesregierung holte damit auch die Konflikte anderer Kulturen ins Land. Die Bundesregierung lud so auch ein fragwürdiges Frauenbild ins Land, das Geringschätzung von und Gewaltanwendung gegen Frauen impliziert.
Die uns gern gezeigten Bilder von Flüchtlingsfamilien entsprechen nicht unserer alltäglichen Wahrnehmung. Es sind vor allem Männer, die über die europäischen Grenzen kommen. Gewalttätige Auseinandersetzungen in den Flüchtlingsunterkünften sprechen ja nicht nur von den Spannungen, die entstehen, wenn Männer beschäftigungslos kaserniert werden. Sie zeugen zuerst davon, dass das Schlachtfeld unüberbrückbarer Feindschaften bis hierher ausgedehnt worden ist. Ein Polizeisprecher sprach vor einiger Zeit aber auch davon, dass in den Flüchtlingsquartieren Frauen vor Übergriffen jener Männer geschützt werden müssten. Und die oben erwähnten Verbrechen an Frauen haben den Alltag für Frauen in unserem Land bereits verändert. Wer fragt, bekommt von einem Gefühl der Gefährdung im täglichen Leben zu hören. Wie wird sich das auf diejenigen auswirken, die nach Deutschland gekommen sind, um sich vor eben jenen Verbrechern in Sicherheit zu bringen und die genuin unseres Schutzes bedürfen?
Es gibt Versuche, wenigstens zu registrieren, wer nach Deutschland und Europa kommt. Aber die vorgeschlagenen Transitzentren werden sogleich von politischen Gegnern mit dem Wort „Haftlager“ belegt. Das ist Demagogie und sprachliche Verwahrlosung. Oder gewollte und selbstverschuldete Unwissenheit. Kürzlich kamen in einer Flüchtlingseinrichtung im sächsischen Döbeln 321 noch nicht registrierte Personen an. Niemand wusste, wer sie waren. Die Registrierung sollte tags darauf erfolgen. Von den 321 Personen waren da nur noch 90 in der Einrichtung.
Und welch Zorn darüber, dass der Staat seine Souveränität schon vor Langem aufgegeben hat. Jüngst wurde die Polizei in Heidenau von Rechtsextremen verprügelt, und in Berlin wird sie alljährlich am 1. Mai von Linksextremen durch die Straßen gejagt. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsextremen am Rand der Dresdner Pegida-Demonstrationen vervollständigen das Bild. Der Schwund bei der Polizei war politisch gewollt und wurde staatlich organisiert. Die Staatsgewalt kann nicht einmal sich selbst schützen. Und wer schützt nun die Bürger?
Welch Zorn auch, dass uns, also dem, ganz pathetisch gesprochen, Volk, Tag für Tag gesagt wird, wie wir zu denken haben. Siehe den strafenden Ton und Blick im Heute Journal des ZDF, wann immer es um Menschen geht, die Kritik an der Flüchtlingspolitik äußern. Nicht selten wird den Kritikern attestiert, dass sie rechts und rassistisch (das neue Modewort) seien. Diese Kategorisierung spielt jenen, die tatsächlich Chauvinisten oder gar Rassisten sind, viel besser in die Hände als ihr eigenes Handeln. Ein solches Vorgehen zielt auf nicht weniger ab, als missliebige Meinungen zu stigmatisieren und aus dem Diskurs auszuschließen.
Und welch großer Zorn, dass wir uns wieder in einer Lage befinden, in der die Regierung und auch weite Teile der Medienwelt gegen das Volk regieren, über es hinweg agieren und von oben herab zu ihm sprechen. 1989 war es auch jahrelang angestauter Zorn, der zur Beseitigung des Vormundschaftsstaates DDR führte. Viele derjenigen, die heute ein Unbehagen gegenüber dem politischen Kurs empfinden, sind, um es verkürzt auszudrücken, 89er.
Die Dinge entwickeln eine seltsame Eigendynamik. Wie immer ist die Grenze zwischen Vorsicht, Aufregung und Hysterie nicht leicht auszumachen. Von dem, was mir erzählt worden ist, nur weil ich von dem reden musste, was mir selbst wörtlich naheging, saust es mir im Kopf. Unruhe breitet sich in mir aus. Was für Symptome nehme ich hier wahr? Symptome wovon?
Ich weiß von gebildeten Menschen, dass sie – trotz mancher von ihnen abgelehnter Redner – zu den Dresdner Pegida-Rundgängen erscheinen. Fremdenfeinde allesamt? Hm, zugleich helfen sie auf unterschiedliche Weise Menschen, die nach Deutschland geflohen sind. Sie wollen vor allem ausdrücken, dass sie sich seit Jahren in existenziellen Fragen übergangen fühlen. Die politische Schicht taumelt nun vor Ereignissen her, die sie teils selbst hervorgerufen hat. Die Kanzlerin aber sagte, dass sie die Lage im Griff habe. Hochmut kommt vor dem Fall.
Und er schwillt weiter an, der Zorn.
Frauen mit Messern bedroht und überfallen. Hier, innerhalb weniger Tage. Einzelfälle. Gewiss. Nicht mein Grund, hier an die Öffentlichkeit zu treten. Aber der Anlass. Anlass genug.
Unter dem Titel Perspektiven/Aus meiner Sicht veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Analysen und Interviews zu aktuellen Themen. Texte, die Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.