Von Matthias Nicko
Bis in den Kindergarten braucht Johanna nur fünf Minuten. Das schaffen andere Knirpse zwar auch. Aber im Fall der kleinen Görlitzerin liegt eine EU-Außengrenze dazwischen. Über diese hinweg radeln Papa Frank und sein Töchterchen jeden Morgen nach Zgorzelec, wo Johanna in Sichtweite der Zollhäuschen mit gleichaltrigen Polen den Tag verbringt.
Seit Januar 2002 lernt Johanna so fast spielend Polnisch. Beim Reiten auf dem Schaukelpferd ebenso wie beim Kleben mit Buntpapier, aus welchem alle Kinder Bilder gestaltet haben. Die hängen jetzt an der Wand – das Bild von Johanna neben denen der übrigen Mädchen und Jungen der Gruppe, die Michal oder Magda heißen. Unter Johannas Kunstwerk steht ihr Alter: 4 lata.
Die kleine Görlitzerin hat den Bogen mittlerweile raus. In verständlichem Polnisch weist sie ihre Erzieherin Adela Klys darauf hin, dass Sebastian eine Nadel in der Hand halte, was doch gefährlich sei. Inzwischen klappt es selbst mit der Aussprache der schwierigen Zischlaute. Geblieben sind die Probleme mit den weiblichen Endungen. Aber abgesehen davon hat das Kind binnen 15 Monaten Polnisch sprechen gelernt – so wie andere Schwimmen.
Doch mit Johanna kommen nur noch Martha und Anna sowie Vincent täglich aus Görlitz über die Grenze in die Przedskola 3. Das trägt dazu bei, dass die Einrichtung bei weitem nicht ausgelastet ist. Nun soll sie geschlossen werden. So hat es das Stadtparlament in Zgorzelec beschlossen, und so haben es die zuständigen Behörden in Warschau bestätigt, sagt Ireneusz Aniszkiewicz, der zuständige Bürgermeister in Zgorzelec.
In der Villa in der ulica Wolnosci gehen derweil bis zum Spätsommer die Lichter aus. Denn deren Auslastung ist mit 60 Mädchen und Jungen die geringste in Zgorzelec – und von Jahr zu Jahr werden es weniger Kinder. Freilich: Das Haus an der Stadtbrücke liegt grenznah wie kein zweites. Verletzt sich hier ein deutsches Kind beim Spielen, ist es bis zum Görlitzer Arzt nur ein Katzensprung. Zudem verwöhnt das Grundstück mit der ehrwürdigen Villa die Kleinen mit viel Grün.
Neben dem geringen Zulauf nennt die Direktorin des Kindergartens, Helena Gonicka, einen weiteren Schließungsgrund: „Für die Sanierung des alten Gebäudes wäre einiges Geld nötig gewesen.“ Geld, dass man in Zgorzelec nicht hat. Statt dessen besteht nun sogar die Möglichkeit, die Villa zu verkaufen.
Auch die schmalen Portemonnaies mancher Muttis und Vatis mögen die Schließung begünstigt haben. Denn während in den acht anderen Zgorzelecer Kitas – etwa in den Neubauvierteln im Norden – bis zu 75 Prozent der Kinder am kostenpflichtigen Deutsch-Unterricht teilnehmen, kann sich das in Frau Gonickas Haus nicht einmal die Hälfte der Eltern leisten. Alles andere als eine Empfehlung für den Erhalt eines Sprach-Kindergartens. Und so steht ab September auch das zehnköpfige Kindergarten-Personal inklusive der Küchenfrauen und Verwaltungsangestellten auf der Straße – wie so mancher Vater und manche Mutter selbst.
Möglicherweise hätte ein rundes Dutzend deutscher Knirpse eine andere Entscheidung hervorgerufen. Genau so viele kleine Polen sind es nämlich, die das keine fünf Fahrrad-Minuten entfernte „Zwergenhaus“ im deutschen Teil des Stadtparks besuchen.
Dass hüben wie drüben nicht noch mehr Kinder mit Gleichaltrigen aus dem Nachbarland aufwachsen, begründet Kindergarten-Direktorin Gonicka auch mit der mangelnden Werbung der beiden Städte für das gegenseitige Kennenlernen. Ireneusz Aniszkiewicz, der auch stellvertretender Bürgermeister von Zgorzelec ist, will diese Kritik nicht auf sich nehmen. Er habe immer wieder für das Projekt geworben. Sogar einen Tag der offenen Tür gab es vor wenigen Monaten.
Sein Görlitzer Kommissions-Kollege Ulf Großmann sagt zumindest: „Wir haben dem Sprachangebot keinen Riegel vorgeschoben.“ Offensiv geworben hat die Stadt allerdings nur für die eigene Einrichtung, das Zwergenhaus.
Mit der geplanten Schließung des Kindergartens am östlichen Neißeufer sieht Bürgermeister Ireneusz Aniszkiewicz das polnisch-deutsche Projekt allerdings nicht gefährdet. „Zgorzelec hat noch acht weitere Kindergärten mit insgesamt 237 freien Plätzen. In jeder Einrichtung sind deutsche Kinder willkommen.“
Tatsächlich liegt der nächste Kindergarten nur wenige hundert Meter entfernt am anderen Ende des Stadtparks. Doch selbst wenn die praktischen Hürden für eine Fortsetzung der „Grenzgänge“ nicht sehr hoch sein sollten, haben die deutschen Eltern von Anna, Martha und Johanna ihre Bedenken. Denn nur in der ulica Wolnosci haben die Erzieherinnen um Adela Klys und „Pani Direktor“ Helena Gonicka seit Jahren Erfahrung im Umgang mit deutschen Kindern. Denn es gehört schon eine gute Portion Fingerspitzengefühl dazu, Dreijährige zu integrieren, die zu Beginn nicht eine Silbe Polnisch sprechen. Wissenschaftliche Untersuchungen, die etwa dem sorbischen Witaj-Projekt zu Grunde liegen, haben zwar gezeigt, dass Kinder zwischen drei und fünf Jahren gut in der Lage sind, eine fremde Sprache gleichsam spielend zu erlernen, wenn man sie nur richtig eintauchen lässt. Aber manche Kinder speichern erst einmal über längere Zeit alle neuen Sprach-Eindrücke, bevor sie selbst aktiv sprechen. Dazu bedarf es einer besonderen Aufmerksamkeit der Erzieherinnen. Und die haben die deutschen Eltern im 3. Kindergarten durchaus entdeckt. Auch ist den Eltern wichtig, dass die Kinder ihre vertrauten Erzieherinnen und Freunde behalten.
Daher wollen sie den Kindergarten auch noch nicht aufgeben. Gestern haben die Eltern beim Ersten Bürgermeister Miroslaw Fiedorowicz eine Liste mit etwa drei Dutzend Unterschriften aus Görlitz abgegeben. Innerhalb weniger Tage hatten sich allein im Bekanntenkreis so viele Unterstützer für den polnisch-deutschen Kindergarten gefunden. Einige befreundete Eltern hatten sogar schon vorher signalisiert, dass sie ihr Kind nach Zgorzelec schicken möchten. Schließlich sind Martha, Anna, Vincent und Johanna buchstäblich beredte Beispiele, dass das gut klappt.