Demonstrieren? Ja! Pöbeln? Nein!

Hätten Sie’s gedacht? Die größten Proteste gegen den staatlichen Umgang mit der Corona-Pandemie formieren sich nicht im Osten des Landes, wie man es nach all den Jahren der „Widerstand“-ler und „Merkelmussweg“-idisten gedacht hätte. Nur im Westen strömen wahre Massen auf „Corona-Demos“, in München Tausende, in Stuttgart Zehntausend. Auf den zweiten Blick ist das weniger verwunderlich: Das Epizentrum der sogenannten Wutbürger ist dorthin zurückgekehrt, wo es einst seinen Anfang hatte, bei der Bewegung „Stuttgart 21“.
Selbst wenn man das nicht 1:1 mit den Protesten in Zwickau, Pirna, Bautzen vergleichen kann; gerade dort zeigt sich, wie bunt sich die Demonstrierenden vielfach zusammensetzen: Impfgegner, Esoteriker, Naturfreaks, zu Recht Beunruhigte und Weltverschwörungsgläubige, linke und rechte Radikale bis hin zu demokratieverachtenden Extremisten, inklusive Antisemiten und Holocaustleugner.
An diesen „Corona-Demos“ ist nichts grundsätzlich problematisch. Sie sind Ausdruck einer lebendigen Zivilgesellschaft, die staatliche Maßnahmen nicht einfach hinnimmt, sie vielmehr hinterfragt. Erst recht in einer solchen Ausnahmesituation, die alle, auch und gerade die Politik und die sie beratenden Wissenschaftler vor völlig neue Herausforderungen stellt. Die politisch Verantwortlichen können schließlich nur Maßnahmen ergreifen, die lediglich wahrscheinlich die besten und angemessensten sind. So ist das halt in einem laufenden Forschungs- und Erfahrungsprozess. Auch dass dabei Erkenntnisse überholt und Maßnahmen neu angepasst werden müssen und Fehler geschehen, ist völlig normal.

Nur totale Erkenntnisverweigerer halten das Virus noch für harmlos und kontrollierbar wie eine normale Grippe. Umso bohrender ist die Sorge, die Angst, die Frage der Alltagsbewältigung. Wer hilft betroffenen Menschen und Unternehmen aus deren Notlage? Wann werden Kita-Kinder und Schüler wieder so betreut, wie sie und ihre Familien es nötig haben? Wann kann ich wieder meine Mutter besuchen, die seit Monaten allein im Heim verzweifelt? Sind die ergriffenen Schutzmaßnahmen wirklich die besten und angemessensten?
Diese Fragen müssen gestellt und debattiert werden. Auch laut, öffentlich, auf Kundgebungen. Gerade jetzt, nach all den Wochen, in denen man sich daheim mit diesen Fragen oft alleingelassen fühlte. Wie zivilisiert und trotzdem unmissverständlich solche Demos sein können, zeigen seit Tagen unter anderem die Aktionen von sächsischen Gastronomen, Busfahrern und Reisebüros.
Doch viele Kundgebungen – und das ist wahrlich keine neue Erkenntnis – werden zunehmend unterwandert, missbraucht, parteipolitisch blau und braun orchestriert. Von einer zahlenmäßig eher verschwindenden, aber lauten und hyperaktiven Minderheit aus Radikalen und Extremisten, Verschwörungstheoretikern und Demokratiefeinden, von Hassrednern. Das musste – mal wieder – auch Sachsens Ministerpräsident Kretschmer erfahren, als er sich in Dresden unter die „Spaziergänger“ mischte, um zuzuhören, mit ihnen zu reden. Sofort umringten ihn Pöbler, die diese Begegnung vereinnahmten. Sie wollten gar nicht reden. Sie wollten nur ihren Zorn loswerden und Kretschmer Worte wie „Diktatur!“, „Verarsche!“ und „Corona-Lüge!“ ins hilflose Gesicht grölen.

Nein: Solch unerreichbar Verhärteten muss man nicht zuhören geschweige denn damit reden. Man lasse sie liegen, wo sie sich hinbegeben und bequem eingerichtet haben: in ihrer Fanatiker-Blase. Denn diese Leute haben nicht nur ernste Probleme, sie sind selber eins. Hauptsächlich für all jene, die kritisieren und protestieren wollen, aber nicht zu den Leugnern, Verschwörungsgläubigen und Demokratiefeinden gehören, die solche Kundgebungen vergiften, egal ob aus der Menge heraus oder von Rednerpodien.
Diese Problemfälle stellen uns vor die Wahl. Entweder ich verlasse die Veranstaltung, weil ich den Kohl der Extremisten nicht durch meine Anwesenheit fett machen will. Oder ich zeige klipp und klar, was ich von ihnen halte, und distanziere mich davon. Oder: Ich nehme das alles in Kauf und bleibe trotzdem, weil mir mein Anliegen wichtig ist. Dann aber darf ich nicht jammern, wenn ich in einen Topf geworfen werde mit diesen freidrehenden Radikalen. Schließlich habe ich mich selbst dort hineingesetzt und freiwillig beschlossen, drin zu bleiben. Das ist ja das Schöne an einem freien Land: Wir haben die Wahl. Auch in Coronazeiten.