Von Varinia Bernau
Siegfried Rohierse ist aufgekratzt wie ein kleines Kind, das nach langer Zeit sein Lieblingsspielzeug zurückbekommt. Dabei ist er bereits über 70.
Muffig riecht es um ihn herum. Dort, wo unförmige Brocken in matschigem Grau stehen, aus denen flache Teller und bauchige Kannen in glänzendem Weiß werden sollen: Die Porzellanfabrik Krzysztof hieß einst Krister. Siegfried Rohierse hat hier vor mehr als 50 Jahren die ersten Schritte seines Berufslebens gemacht. In dem schlesischen Örtchen Waldenburg, das heute Wa³brzych heißt, ist er aufgewachsen.
Zufall führt zur Elektroklasse
„Mein Vater arbeitete im Bergbau“, erzählt der Rentner. Deshalb blieb die Familie nach Kriegsende, als so viele andere weggehen mussten. 1950 kam der Junge in eine deutschsprachige Berufsschule in dem roten Klinkerbau, der noch heute gegenüber der Fabrik steht. Zufällig in die Elektroklasse. Und als Rohierse mit der Schule fertig war, da musste zufällig einer der Elektriker aus der Porzellanfabrik seinen Posten räumen, weil er Treibriemen geklaut hatte. Künftig kümmerte sich der 17-Jährige darum, dass Drehscheiben rotierten, Pressen und Pumpen liefen.
Jetzt schiebt Siegfried Rohierse seine Hand tief hinein in einen Haufen Kaolinkügelchen, greift sich eines, zerreibt es zwischen den Fingerspitzen. „Das ist fettig wie Handcreme“, diktiert er in seine Kamera. Mit der tastet er jede Ecke, die er neugierig beäugt, ein zweites Mal ab. Er muss alles festhalten.
Immer wieder sucht er nach Vertrautem – und findet doch nichts. „Da standen früher die Rundöfen“, sagt er und zeigt auf eine Wiese neben den Hallen. Auch Pferdefuhrwerke hat er in Erinnerung. Nun steht dort ein Empfangshäuschen.
An einem Tisch, über dem Kunstblumen ranken, sitzen vier Frauen und formen Henkel. Neben ihren weißen Kaffeepötten liegen bunte Frotteetücher, an denen sie sich ab und an die Hände abwischen. „Ich habe hier auch mal gearbeitet“, erzählt Siegfried Rohierse ihnen in holprigem Polnisch. Als er „cztery lat“ sagt, hebt er dazu vier Finger seiner rechten Hand. „Dann sind Sie ja ein Profi“, meint eine Dame. Als er entgegnet, dass er sich um die Elektrik gekümmert hat, kichern sie.
Heute hätte Siegfried Rohierse hier viel zu tun. Das Brennen und Glasieren übernehmen heute die Geräte. Nur noch 18 Porzellanmaler gibt es unter den mehr als 600 Angestellten. Früher pinselten sie einzelne Motive auf die Tassen, heute kleben sie meist das großflächige Dekor wie Abziehbilder unter fließendem Wasser aufs Porzellan.
Eine Düse drückt einen Brei in die Gipsformen auf dem Laufband. So wie die Spritze eines Zuckerbäckers Windbeutel mit Sahne füllt. Die Formen werden getrocknet, ehe ein gelbes Zahnrad über den oberen Rand rollt, um die scharfen Kanten zu brechen. Am Ende des Bandes setzen einige Frauen die Henkel dran, die ihre Kolleginnen eine Etage tiefer geformt haben. Sie sind die einzigen, die Hand bei der Tasse anlegen.
Meißener Logo kopiert
Siegfried Rohierse hatte schon damals in der Fabrik nicht nur Augen für die Kabel, sondern auch für den Kitsch: Einmal, erzählt er, habe er mit befreundeten Gießern und Brennern Figuren nach Feierabend gefertigt. Er durfte sie zum Schluss bemalen. In kühnem Schwung hat er unten auf den Sockel gekreuzte Säbel gepinselt – wie sie den Meißnern als Gütesiegel für ihre Produktion dienen. Der Streich aus der Jugend hat noch heute einen Ehrenplatz in seinem bayerischen Häuschen. Und vielleicht rührt daher auch jene Geste, die für Rohierse zu jedem Restaurantbesuch gehört, teils aus Neugier, teils aus Misstrauen: Er dreht jeden Teller auf dem Tisch um – und schaut auf der Rückseite nach dem Logo.