Von Denni Klein
Helma Orosz ist zurück. Knapp drei Wochen vor ihrer Rückkehr ins Amt der Oberbürgermeisterin tritt sie um 16.57 Uhr durch die Tür auf die Plattform vor dem Eingang des Dresdner Rathauses. Nicht in erster Reihe. Vor ihr kommen Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich, Landtagspräsident Matthias Rößler und Innenminister Markus Ulbig. Dann kommt Helma Orosz. Viele bemerken sie zunächst gar nicht, weil sie eine graue Pelzmütze tief ins Gesicht gezogen trägt, dazu einen dunklen, olivgrünen Steppmantel.
Statt der Oberbürgermeisterin tritt der Oberbürgermeister ans Mikrofon. Dirk Hilbert führt seit der Krebsdiagnose von Helma Orosz vor einem Jahr die Amtsgeschäfte, so auch diesmal. Er spricht zu den Dresdnern, so gut wie noch nie als Repräsentant der Stadt. Das erkennt Helma Orosz an: „Seine sehr persönlichen Worte haben mich tief bewegt. Es war eine würdige Rede“, sagt sie. Kraft und Überzeugung sind in ihrer Stimme zurück.
Die Würde der Rede empfinden viele der Zuhörer so. Hilbert spricht von Dresden als Heimat für ausländische Mitbürger. Und er spricht von seinem Sohn Lucas, dessen Mutter aus Südkorea stammt, der mit zwei Sprachen aufwächst und von zwei Kulturen geprägt wird. „Sein Leben lang wird man ihm ansehen, dass er nicht nur eine Heimat hat.“ Dirk Hilbert nennt dabei auch seine ganz persönliche Angst: „Was, wenn er eines Tages zu mir kommt und sagt: ’In deinem Land will ich nicht mehr leben? In deiner Stadt fühle ich mich nicht willkommen?‘ Dann habe ich versagt. Noch schlimmer: Dann haben wir alle versagt.“ Seine Botschaft ist deutlich: „Keine Menschenkette, keine Kundgebung und auch keine Blockade werden verhindern, dass der Nationalsozialismus weitere Menschenleben in unserem Land fordert. Nur wir können dies verhindern. Jeder von uns. Tag für Tag.“
Mitten im Politikergedränge
Helma Orosz nickt während der knapp zehnminütigen Rede mehrfach anerkennend. Ihr Stellvertreter spricht gut, viel besser als Stunden zuvor auf dem Heidefriedhof. Dort findet am Nachmittag erstmals ein Gedenkgang statt, der phasenweise einem Gedenklauf gleicht. Die Protokollchefin muss die Männerriege um Hilbert, Tillich und Rößler bremsen. „Sie sind zu schnell“, ruft sie ihnen auf ihrem Spurt vom Rondell des Friedhofs zur Gedenkmauer zu. Doch es geht zügig weiter. Der Chor singt bereits als sich die letzten Gäste platzieren, die auf den 1000 Schritten vom Trauernden Mädchen am Tränenmeer bis zur Gedenkmauer den Anschluss verloren haben. Hilbert redet sich hier warm für seinen anschließend wirklich guten Auftritt am Rathaus. Mehr nicht. Kaum sind die weißen Rosen abgelegt, geht es nicht minder zügigen Schrittes zurück.
Helma Orosz ist zu diesem Zeitpunkt bereits im Rathaus. Gegen 16.15 Uhr trifft sie dort ein. „Ich bin offiziell privat als Bürgerin hier“, sagt sie über ihre Rolle. Und so hält sie sich zunächst bewusst im Hintergrund, während Hilbert an diesem Tag zum zweiten Mal spricht. Anders als viele Bundes- und Landespolitiker, die sich auf der beengten Plattform und den wenigen Stufen am Rathauseingang um die besten Plätze vor Fernsehkameras und Fotografen drängeln. Gleich, ob CDU, FDP oder Grüne. Eine für den Tag unwürdige Szene. Es bleibt im Umfeld der Menschenkette aber die einzige.
Orosz’ großer Auftritt
Gehört die Eröffnungsrede zur Menschenkette noch dem amtierenden Rathaus-Chef, kommt anschließend der Auftritt der wieder genesenen Oberbürgermeisterin. Schon an der Gedenkstelle auf dem Altmarkt kommt sie unbewusst aber zielsicher ihrem Stellvertreter beim Niederlegen der weißen Rosen zuvor. „Das macht jetzt die Chefin“, scherzt Hilbert, als man ihm schnell noch eine Rose reicht und er nachlegt.
Dann trennen sich die Wege von beiden. Helma Orosz geht zur Augustusbrücke. Unterwegs trifft sie weitere prominente Wegbegleiter, Kurt Biedenkopf zum Beispiel. Und so wird ihr privater Besuch der Menschenkette dann doch zum politischen Staatsakt: Helma Orosz reiht sich ein, zwischen Ministerpräsident und Landtagspräsident. Ein ganzer Tross an Rathausmitarbeitern begleitet die private Oberbürgermeisterin, Journalisten, Kameras und Fotografen folgen ihr. Schon zwanzig Minuten vor dem Lückenschluss der Menschenkette stehen sie Hand in Hand für die Bilder bereit. Helma Orosz genießt Scheinwerfer und Blitzlicht.
Zu dieser Zeit hat Dirk Hilbert die Hand seiner Frau ergriffen. Sie trägt Sohn Lucas, gemeinsam stehen sie inmitten von Dresdnern an der Synagoge. Privat. Ganz offiziell.