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Zwischenstopp auf dem Weg ins neue Leben

Über 40 Suchtkranken hat das Projekt in Bockelwitz schon aus der Krise geholfen. Nun werden Unterstützer gesucht.

Von Maria Fricke
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Michael Köste (Mitte) leitet das Projekt "Zwischenstopp". An diesem haben bislang schon mehr als 70 Männer teilgenommen.
Michael Köste (Mitte) leitet das Projekt "Zwischenstopp". An diesem haben bislang schon mehr als 70 Männer teilgenommen. © Dietmar Thomas

Leisnig/Mittelsachsen. Ein Zeckenbiss veränderte alles. Tim K.* erkrankte an Borreliose, sein Herz drohte zu versagen. Mit Anfang 20 wäre er fast gestorben, so der junge Mann, der seine Geschichte nur anonym erzählen will.

Seit Februar ist ein Vierseithof in Bockelwitz sein Zuhause. In dieser Woche wird er jenen Zwischenstopp in seinem Leben wieder verlassen. Und zur Langzeittherapie nach Tübingen aufbrechen. Tim K. hatte ein Problem mit Cannabis. „Ich hatte viele private Schicksalsschläge, habe gekifft und gezockt, am Ende meinen Job und meine Wohnung verloren“, erzählt der 23-Jährige. Er landete im Obdachlosenheim, bei einem ungemütlichen Mitbewohner und erkrankte schließlich an der durch Zecken übertragenen Krankheit.

Aufgrund seiner Verwandtschaft kam der junge Mann, der eigentlich aus Baden-Württemberg stammt, nach Ostdeutschland. In der Fachklinik Bethanien in Hochweitzschen absolvierte er erfolgreich die Entgiftung und die anschließende dreiwöchige Entzugsbehandlung. Der nächste Schritt wäre nun die Reha-Behandlung. Doch auf diese muss der junge Mann warten. Zum einen, weil zunächst geklärt werden muss, wer die Kosten für die Behandlung übernimmt. Zum anderen auch, weil die Kliniken oft eine Warteliste haben. Eine Zwischenzeit, die für viele Suchtkranke gefährlich ist. Denn kehren die Betroffenen in dieser Zeit in ihr häusliches Umfeld zurück, komme es fast immer zu einem Rückfall, sagt Matthias Gröll, Psychiatriekoordinator im Landkreis Mittelsachsen.

"50 Prozent sind Väter"

Um das zu verhindern, ist im Juni 2016 das Projekt „Zwischenstopp“ in Bockelwitz bei Leisnig ins Leben gerufen worden. Auf dem Hof dort können bis zu neun Männer zwischen 18 und 40 Jahre die Zeit bis zum Beginn der Reha überbrücken. Sie haben einen festen Tagesablauf, gehen in der Möbelbörse in Döbeln, die vom Netzwerk Mittweida betreut wird, arbeiten. In Bockelwitz haben sie einen Ergotherapeuten sowie eine Sozialarbeiterin als Ansprechpartner vor Ort. Es gibt Freizeitmöglichkeiten, sowohl auf dem Gelände als auch im Haus selbst. Und die sportlichen, kreativen, gestalterischen Angebote werden auch genutzt, sagt Michael Küste. Er ist seit Dezember 2017 der Leiter des Projektes und steht in engem Kontakt mit den Männern.

Ihm ist wichtig, dass die Teilnehmer des Projektes einen strukturierten Tag haben und auch arbeiten. Er ist daher froh über die Unterstützung durch das Netzwerk Mittweida. Aber auch auf dem Hof gibt es viel zu tun. Die Tage in Bockelwitz sind strikt geplant. Einkaufen, gemeinsames Kochen und Essen gehören ebenso dazu, wie einmal pro Woche die Suchtberatung durch die Diakonie und die Gespräche mit der Sozialarbeiterin. Ab dem zweiten Monat in Bockelwitz dürfen die Männer sogar am Wochenende nach Hause fahren. „50 Prozent sind Väter. Die brauchen den Kontakt zu den Kindern“, sagt Küste.

Rückfall als Chance

Doch das Zurück nach Hause birgt auch Gefahren. Denn wenn die Teilnehmer einen Rückfall erleiden, dann meist im häuslichen Umfeld. Ein Ausschlusskriterium für „Zwischenstopp“ ist das aber nicht. Vielmehr sieht Küste darin eine Chance für die Teilnehmer, die so gezwungen sind, sich mit dem Rückfall auseinanderzusetzen. In Bockelwitz haben sie die Möglichkeit, mit Experten, auch der Klinik in Hochweitzschen, die die Teilnehmer meist nach Bockelwitz vermittelt, über ihre Erlebnisse zu sprechen.

„Es ist immer jemand da, der einem hilft“, sagt auch Leon P.*, der seit April auf dem Hof lebt. Der 32-Jährige sei anfangs sehr skeptisch gewesen, ob der „Zwischenstopp“ in Bockelwitz für ihn das Richtige sei. „Ich wollte nur solange wie nötig hierbleiben“, sagt er. Nach kurzer Zeit jedoch habe sich seine Einstellung grundlegend geändert. „Das Projekt hilft mit sehr.“ Schon in der Jugend habe er sehr zeitig mit dem Trinken begonnen. Zwei Jahre lang habe er schließlich, aufgrund eines dummen Zufalls, massiv Crystal verkauft und auch selbst konsumiert. Von der Droge kam er los, aber die Sucht nach Cannabis und Alkohol blieb. Einen strukturierten Tag habe er trotzdem gehabt. „Ich war Schichtarbeiter, habe in der rollenden Woche in drei Schichten gearbeitet“, schildert er. Die Zeit in Bockelwitz empfinde er nun als Erholung. Trotz Verpflichtungen fühle er sich nicht mehr gestresst. Und hat sogar eine neue Aufgabe für sich entdeckt.

Zurzeit kümmert sich der Vater eines Grundschulkindes um die Mitarbeiter der Roßweiner Werkstätten, die aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie in Bockelwitz mitarbeiten. „Die Betreuung macht mir richtig Spaß.“ Vielleicht gehe er nach der Reha in die soziale Richtung. Doch das liegt noch in ferner Zukunft. Die Reha würde er gern in einer Klinik am Bodensee absolvieren. Die Wartezeit auf einen Platz dort betrage 16 bis 17 Wochen. Zuvor müssen die Anträge bearbeitet werden. „Ich werde bestimmt noch bis Ende des Jahres hier sein“, meint der Mann.

Auch der 32-Jährige hat eine Perspektive, wie es nach der Reha für ihn weitergehen könnte. Er möchte gern zurück nach Bockelwitz, sich dann in der Region eine Wohnung und einen Job suchen. Fünf Leute haben diese Möglichkeit des zweiten „Zwischenstopps“ in Bockelwitz bereits genutzt, sind für knapp anderthalb Monate nach der Reha noch einmal an den Ort nahe der A 4 zurückgekehrt, um sich in der Nähe Wohnung und Job zu suchen.

Tim K. und Leon P. sind zwei von derzeit fünf Teilnehmern des Projektes in Bockelwitz. Über 70 haben seit 2016 den „Zwischenstopp“ bereits durchlaufen, die meisten mit Erfolg. 42 von ihnen haben nach erfolgreicher Rehabilitation im Anschluss sogar zurück ins Leben gefunden. In einer Berufsausbildung sowie auf den Arbeitsmarkt integrieren konnten sich 17 Teilnehmer, sieben befinden sich weiterhin in einer Entwöhnungsbehandlung. Ein Teilnehmer ist verstorben, ein weiter lebt in einer sozialtherapeutischen Wohnstätte. „Zu 16 Teilnehmern fehlen uns die Informationen über deren Verbleib“, sagte Matthias Gröll.

Bisher nur Männer im Projekt

Die Nachfrage nach einem Platz bei „Zwischenstopp“ ist groß. Im vergangenen Jahr wurden 25 Teilnehmer betreut, obwohl es nur zwei Mal neun Plätze pro Jahr gibt. Im Schnitt bleiben Männern zwei bis sechs Monate in Bockelwitz. Gröll spricht von einer Überlastung des Projektes, das nicht nur von Mittelsachsen, sondern auch von Suchtkranken aus Dresden, Leipzig, Bautzen sowie vereinzelt auch von Chemnitzern, Meißnern und Nordsachsen in Anspruch genommen wird. „Es ist dem Projektträger, der Diakonie Döbeln, und der Stadt Leisnig als Eigentümerin der Immobilie zu verdanken, dass wir diese Überlastung schultern konnten“, meint Gröll.

Mehr Plätze im Zwischenstopp anbieten, ist jedoch nicht ohne Weiteres möglich. Denn sie müssen finanziert werden. Aktuell wird wieder nach einer Absicherung für das Projekt gesucht, das auch vom Freistaat Sachsen mitfinanziert wird. Initiiert worden ist es vor vier Jahren im Rahmen der landesweiten Kampagne zur Bekämpfung des Crystal-Konsums. Dafür gab es Geld vom Freistaat sowie aus der Kreiskasse. Die Kosten belaufen sich in diesem Jahr auf rund 115.600 Euro. Getragen werden diese derzeit zu gleichen Teilen von Freistaat und Kreis. Der wird das Projekt, das zu seinen Pflichtaufgaben gehört, auch in den kommenden beiden Jahren mit jeweils 60.000 Euro unterstützen. Dazu gaben die Kreisräte im Verwaltungs- und Finanzausschuss ihre Zustimmung.

„Warum aber muss die Summe auf den Betrag begrenzt werden?“, fragte Kreisrat Jörg Hommel (Die Linke). Schließlich sei die Nachfrage nach den Plätzen groß. Wenn mehr Geld in die Hand genommen werde, sei es vielleicht auch möglich, Frauen in Bockelwitz mit zu betreuen . Bisher dürfen nur Männer an dem Projekt teilnehmen. Um Konflikte zu vermeiden, ist auf die Aufnahme von Frauen in den Wohngemeinschaften bisher verzichtet worden. Allerdings gebe es bereits ein Konzept dafür, sagt Matthias Gröll.

Unterstützer gesucht

Kritisiert wurde von Kreisräten, dass die Mehrheit der Teilnehmer des Projektes nicht aus Mittelsachsen komme. „Ich spüre hier eine Ungerechtigkeit. Wir tragen die Kosten für andere Landkreise“, meinte Lars Naumann (Freie Wähler). Doch es sei von Anfang an vorgesehen gewesen, dass das Projekt überregional gestaltet sei, sagt Gröll. Schließlich zahle der Freistaat nach wie vor dafür. Und auch Jörg Höllmüller, zweiter Beigeordneter des Landkreises und zuständig für die Bereiche Gesundheit und Soziales, wiegelte eine Debatte darüber ab. „Es gibt auch Projekte in anderen Landkreisen, an denen Mittelsachsen teilnehmen. Zudem ist es eine Chance, mit dem Projekt unseren Arbeitsmarkt zu beleben.“

Dass „Zwischenstopp“ dabei hilft, die gesellschaftlichen Folgekosten des Drogenkonsums zu reduzieren, belegt eine Berechnung der Sparkasse Döbeln. Die Einsparung liegt demnach bei rund 60.000 Euro für neun Personen, die aufgrund des „Zwischenstopps“ nach erfolgreicher Entgiftung und Entzugsbehandlung nicht wieder rückfällig werden.

Aktuell sind die Projektbeteiligten darum bemüht, die Finanzierung neu abzusichern. „Es war von Anfang an so gestaltet, dass sich der Freistaat zurücknimmt“, erklärt Gröll. Doch es sei nicht so leicht, einen anderen Kostenträger mit ins Boot zu holen. Ab 2021 soll demnach noch ein weiterer finanzieller Baustein das Projekt absichern. Geplant ist ein Unterstützerkreis, der sich am Donnerstag beim Tag der offenen Tür in Bockelwitz finden soll.

*Namen von der Redaktion geändert 

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