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Polen plant sein erstes Atomkraftwerk an der Ostsee

Polen will groß in die Atomenergie einsteigen, deutsche Bundesländer haben Bedenken. Doch Sachsens Ministerpräsident verlangt nun eine neue Kernenergiedebatte.

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Polen will in die Atomenergie einsteigen. In Slajszewo nordwestlich von Danzig soll voraussichtlich das erste Atomkraftwerk des Landes entstehen. Kritik an den Plänen gibt es nicht nur von Anwohnern.
Polen will in die Atomenergie einsteigen. In Slajszewo nordwestlich von Danzig soll voraussichtlich das erste Atomkraftwerk des Landes entstehen. Kritik an den Plänen gibt es nicht nur von Anwohnern. © Doris Heimann/dpa

Große Vorratsgläser mit getrockneten Steinpilzen stehen auf dem grünen Kachelofen. Durch die bodentiefen Fenster ihres Esszimmers blickt Joanna Zwierzchowska auf die schneebedeckte pommersche Landschaft. "Dies ist meine Oase", sagt die 51-jährige Geschäftsfrau, die in Danzig ein Reisebüro betreibt. Doch die Idylle ist gefährdet. Denn Zwierzchowskas Haus steht in Slajszewo, einem Dorf an der polnischen Ostseeküste. Hier in der Nähe, gut 80 Kilometer nordwestlich von Danzig und etwa 300 Kilometer von der Grenze zu Deutschland, soll voraussichtlich Polens erstes Atomkraftwerk gebaut werden. Nicht nur in der Region stößt das auf Widerstand. Auch in Deutschland verfolgt man die polnischen Atom-Pläne mit Sorge.

Anfang November hat Polens nationalkonservative PiS-Regierung dem US-Konzern Westinghouse den Zuschlag für den Bau des ersten AKW im Land gegeben. Die Baukosten sollen umgerechnet 18,6 Milliarden Euro betragen. Zum Standort sagte Klima- und Umweltschutzministerin Anna Moskwa etwas diffus, die Präferenz gelte "der Gegend von Kopalino-Lubiatowo". Das ist der Nachbarort von Slajszewo.

Spätestens 2026 soll mit dem Bau des ersten Reaktorblocks begonnen werden, der 2033 ans Netz gehen soll, heißt es in dem 2021 vorgelegten Strategiepapier "Polens Energiepolitik bis 2040", das nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs aktualisiert wurde. Alle zwei Jahre nach 2033 soll ein weiteres AKW seinen Dienst aufnehmen. Bis 2043 sollen es sechs AKW werden. Auch will Warschau den Bau sogenannter kleiner modularer Reaktoren (SMR) durch private Investoren fördern.

Ein Plakat mit der Aufschrift "Nein zum Atom" hängt an einem Zaun vor einem Haus in der Nähe des polnischen Dorfs Slajszewo.
Ein Plakat mit der Aufschrift "Nein zum Atom" hängt an einem Zaun vor einem Haus in der Nähe des polnischen Dorfs Slajszewo. © Doris Heimann/dpa

Die Atomkraftwerke sollen Polen beim Ausstieg aus der Kohle helfen - gegenwärtig gewinnt das Land fast 80 Prozent seiner Energie aus Stein- und Braunkohle. Nicht nur die hohen Emissionswerte sind ein Problem. Nach Prognosen des staatlichen Geologischen Instituts reichen die für den Abbau geeigneten Steinkohlevorhaben noch für 50 Jahre - bei der Braunkohle könnte schon in 20 Jahren Schluss sein.

Mit dem Ukraine-Krieg und der Energiekrise hat sich die Stimmung in der polnischen Gesellschaft gedreht. Noch im Juni 2021 waren 45 Prozent der Polen gegen Atomkraft, 39 Prozent dafür. In einer aktuellen Umfrage liegt der Anteil der Befürworter bei 75 Prozent.

Joanna Zwierzchowska lenkt ihren SUV über den Sandweg, der zum breiten Sandstrand von Slajszewo führt. In einem Kiefernwald hinter den Dünen ragen blaue Metallpoller aus dem Boden. Hier wurden Bodenproben für den möglichen AKW-Standort entnommen.

© dpa Grafik

"Das gesamte Ökosystem dieser Ostseeregion ist gefährdet", sagt die Aktivistin, die in der Bürgerinitiative Ostsee-SOS gegen den geplanten Bau mobil macht. In Slajszewo und den umliegenden Dörfern hängen an einigen Gartenzäunen gelbe Plakate mit den Slogans "Stop Atom" und "Nein zum AKW in Slajszewo". Groß ist der Protest nicht. Manche Bürger seien zwar dagegen, aber sie wollten keine Plakate aufhängen, sagt Zwierzchowska. Häufig würden Atomkraft-Gegner von den Befürwortern als "deutsche Agenten" diffamiert.

Sachsens Umweltministerium sagt nicht rigoros "nein"

Der Hinweis auf Deutschland kommt nicht von ungefähr. "Vor dem Hintergrund der verheerenden Atomunfälle in Tschernobyl und Fukushima sollte auf Pläne zur weiteren Nutzung der Kernenergie im Interesse der Bevölkerung und Umwelt aller Ostseeanrainer verzichtet werden", heißt es in einer Mitte Dezember veröffentlichten Erklärung der Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Berlin.

In der sächsischen Stellungnahme hält Umweltstaatssekretär Gerd Lippold von den Grünen "als grundlegende Schlussfolgerung aus den Ergebnissen" fest, "dass keine Gefährdung der Gesundheit von Menschen zu erwarten ist, die in weit vom Standort entfernt gelegenen Gebieten leben, insbesondere in den Nachbarländern". Sofern die Polen alles korrekt berechnet hätten, sei daraus "in der Tat keine unmittelbare, radiologisch bedingte gesundheitliche Gefährdung für die Einwohnerinnen und Einwohner des Freistaats Sachsen ableitbar". Lippold schreibt jedoch auch von potenziell "existenzbedrohenden, langfristigen Folgen für landwirtschaftliche Betriebe sowie gegebenenfalls auch für das Gastgewerbe und andere vom Tourismus abhängige Branchen". Und er hält fest, die Anmerkungen stellten "noch keine abschließende Bewertung des Projektes dar".

Inzwischen äußerte sich auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) zu der Debatte. Am Mittwochabend twitterte er: "Um Energiesicherheit zu garantieren, setzen Frankreich, Belgien, Polen auf die Modernisierung ihrer AKW & verlängern deren Laufzeit. Höchste Zeit, dass auch wir uns der Debatte über Laufzeitverlängerung & moderne Kernenergieforschung stellen".

Mit vier Strichen seines Kugelschreibers markiert Bürgermeister Wislaw Gebka auf einer Karte die Stelle, wo das AKW stehen soll. "Ich kenne keine Gemeinde auf der Welt, die begeistert wäre, wenn alles zerstört wird", sagt der Verwaltungschef der Gemeinde Choczewo, zu der Slajszewo gehört. Viele Menschen in der Küstenregion lebten von der Vermietung von Ferienwohnungen und hätten Angst, dass ihre Existenzgrundlage vernichtet werde. "Aber als Beamter muss ich die Interessen der Gegner und die Interessen der Befürworter vertreten und gleichzeitig die Situation Polens berücksichtigen, das einen Platz zum Bau des AKW braucht."

Es wäre nicht Polens erster Versuch, in Ostseenähe ein Atomkraftwerk zu bauen. Nur 23 Kilometer von Slajszewo entfernt liegt Zarnowiec. Dort sollte in kommunistischer Zeit Polens erstes AKW entstehen. Heute ragt eine riesige Bauruine mit verwitterten Betonklötzen und rostigen Stahlgittern in den Himmel. Das in den 80er Jahren begonnene Prestige-Projekt wurde 1990 aufgegeben. Denn nach der Katastrophe von Tschernobyl wuchs auch in Polen der Widerstand gegen die Atomkraft. "Das ist meine größte Sorge", sagt Bürgermeister Gebka, "dass es bei uns genauso läuft wie damals in Zarnowiec." (dpa/SZ/fa)