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„Wenn sie Glück hat, töten die Taliban sie schnell“

Hans-Jürgen Domani war als Soldat aus Sachsen in Afghanistan und betreut mehrere Ortskräfte. Seit die Taliban Kabul eroberten, fürchten diese um ihr Leben.

Von Franziska Klemenz
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Dass die radikalislamistische Terrororganisation Taliban Afghanistan nach dem Abzug der NATO-Truppen wieder beherrschen würde, war klar. Nur nicht, dass es so schnell gehen würde - dutzende ehemalige Bundeswehr-Helfer müssen fliehen.
Dass die radikalislamistische Terrororganisation Taliban Afghanistan nach dem Abzug der NATO-Truppen wieder beherrschen würde, war klar. Nur nicht, dass es so schnell gehen würde - dutzende ehemalige Bundeswehr-Helfer müssen fliehen. © Xinhua

Herr Domani, zuletzt hat das Patennetzwerk der Bundeswehr zwei sichere Häuser in Kabul betrieben, um Ortskräfte zu schützen. Was passiert mit ihnen jetzt, wo die Taliban Kabul eingenommen haben?

Es gibt kein sicheres Haus mehr, weil es auch keinen sicheren Ort mehr gibt. Der Flughafen in Kabul ist gesperrt, der Luftraum auch. Militärkräfte fliegen nur noch ihr Personal aus: internationale Leute aus Kabul, die wichtig genug sind, und Soldaten, die den Rückzug decken. Heute hätte die Evakuierung beginnen sollen. Die 1.300 Ortskräfte, die sich auf den Aufruf des Patennetzwerks in den vergangenen zwei Wochen in Kabul eingefunden und auf Evakuierung gewartet haben, sind auf der Flucht. Zwei Bundeswehrmaschinen haben heute Kabul verlassen. Je nach Bestuhlung kriegen die je etwa 300 Leute rein.

Sie stehen mit mehreren Menschen, die im Auftrag der Bundesrepublik gearbeitet haben, in Kontakt. Wie geht es ihnen?

Die Taliban haben die Wohnadressen von regierungsnahem Personal. Sie rücken in Kabul vor, durchsuchen Straße für Straße die Häuser. Verdächtige werden entweder in Gefangenschaft genommen oder gleich erschossen. Ich hatte auch Kontakt zu einem von den Deutschen ausgebildeten Polizisten, der sich mit Frau und Kindern versteckt.

  • Bundeswehrreservist Hans-Jürgen Domani unterstützt Helfer der Bundeswehr in Afghanistan, die für ihre Arbeit bedroht werden und in Sachsen Zuflucht gefunden haben. 2010 war er selbst dort im Einsatz. Mehr über seine Arbeit lesen Sie hier.

Auf dem Weg zum Flughafen ist er umgekehrt, weil man nicht mehr sicher dorthin kommen konnte. Unsere Mitarbeiter verbrennen alle deutschen Dokumente, die sie bei sich haben, damit man ihnen nichts nachweisen kann.

Oberstleutnant Hans-Jürgen Domani (Mitte) war 2010 und 2011 als Bundeswehrreservist in Afghanistan im Einsatz. Seit 2014 kümmert er sich um bedrohte Familien wie diese, die vor den Taliban nach Sachsen fliehen.
Oberstleutnant Hans-Jürgen Domani (Mitte) war 2010 und 2011 als Bundeswehrreservist in Afghanistan im Einsatz. Seit 2014 kümmert er sich um bedrohte Familien wie diese, die vor den Taliban nach Sachsen fliehen. © kairospress

Dabei hängt daran ihre Chance, ein Visum für Deutschland zu erhalten. Bisher haben sie die Papiere wie Schätze gehütet.

Sie verlieren die Hoffnung. Diejenigen, die heute Vormittag am Flughafen waren, fliehen jetzt panisch, um sich irgendwie zu retten. Auf dem Flughafen herrscht komplettes Chaos. Tausende, die wegwollen, haben Soldaten überrannt, versucht, sich in Flugzeuge zu retten. Deswegen haben US-Kräfte den Flugplatz gesperrt, bis man die Kontrolle zurückhat. Ob sich dann nochmal ein Fenster ergibt, in dem Flüge möglich sind, wird sich im Lauf der Woche herausstellen. Vielleicht wird man auch nur die eigenen Leute retten.

Hunderte Menschen haben in Kabul versucht, aus Verzweiflung auf und in Flugzeuge der NATO-Truppen zu stürmen. Einige hingen noch in der Luft daran und stützten dann in den Tod.
Hunderte Menschen haben in Kabul versucht, aus Verzweiflung auf und in Flugzeuge der NATO-Truppen zu stürmen. Einige hingen noch in der Luft daran und stützten dann in den Tod. © Verified UGC/AP

Sie kennen auch eine Journalistin in Kabul, die im Auftrag der Bundesregierung eine Radiosendung über Kinderkrankheiten und Frauenhygiene produziert hat. Sie hat kein Visum erhalten, obwohl sie auf der Todesliste der Taliban steht. Wie geht es ihr jetzt?

Ein anderer Journalist hatte ihr einen Sitz für einen Passagierflug gebucht. Aber sie konnte ihren Bereich nicht verlassen, weil es Kämpfe gab. Man konnte sich auf der Straße nicht mehr bewegen. Frauen und Kinder leben besonders gefährlich. Der Mann kann sich unter Talibanherrschaft relativ frei bewegen, arbeiten, Freundschaften pflegen. Frauen und Kinder haben keine Möglichkeit, sich frei zu bewegen, frei zu ernähren.

Neben dem allgemeinen Lebensrisiko sind sie auch noch sexuellem Missbrauch ausgesetzt. Wenn sie sich alleine draußen zeigen, haben sie nach Ansicht der Taliban das Recht auf eine Ehre verloren. Man darf sie ungestraft vergewaltigen. Wenn wir über humanitäre Hilfe sprechen, sollten wir möglichst Frauen oder Kinder holen.

Wie geht es für die Journalistin weiter?

Wenn sie Glück hat, töten die Taliban sie schnell, wenn sie sie finden. Sonst muss sie vielleicht zugucken, wie ihre Kinder im Vor- und Grundschulalter vor ihren Augen gefoltert oder getötet werden. Die Taliban kennen viele seelische und körperliche Grausamkeiten. Diese Kinder sind in relativem Frieden aufgewachsen. Für sie geht jetzt gerade eine Welt unter. Wer die Möglichkeit hat, gibt seine Kinder an Verwandtschaft, die man erreichen kann und die zuverlässig ist. Dann könnte man die Kinder nachholen, wenn man an einen sicheren Ort geflohen ist.

Eine Mutter und ihre Tochter haben sich mit Hunderten anderer Afghanen zusammengeschlossen, um die Übernahme ihrer Heimat durch die Taliban anzuprangern und die internationale Gemeinschaft zum Handeln aufzufordern, um das Leben der Menschen in Afghanistan
Eine Mutter und ihre Tochter haben sich mit Hunderten anderer Afghanen zusammengeschlossen, um die Übernahme ihrer Heimat durch die Taliban anzuprangern und die internationale Gemeinschaft zum Handeln aufzufordern, um das Leben der Menschen in Afghanistan © ZUMA Press Wire

Wie kann die Flucht gelingen, jetzt, wo die Taliban beinahe das ganze Land kontrollieren?

Während der Belagerung um Städte wie Masar-e Scharif oder Kundus war es nicht möglich, aufs Land zu entkommen. Jetzt, wo es wieder Märkte und Handel gibt, wird es nach und nach möglich sein, sich durchs Land zu bewegen. Am ein oder anderen Checkpoint wird man sich durchlügen können, sofern man nicht mit Foto auf der Todesliste steht. Wer stark genug ist und das riskiert, wird es zu Fuß oder mit dem Schlauchboot möglicherweise in den Iran oder ein anderes Nachbarland schaffen.

Von dort könnte man die Geflohenen später ausfliegen. Wer seine Kinder nicht zu Verwandten bringen kann, hat es schwer. Ob eine Familie mit kleinen Kindern über Bergpässe fliehen kann, ist fraglich. Mit erheblichem Geldaufwand, der berühmten Bestechung, könnte man Leute im grenznahen Bereich abholen und über die Grenze bringen. Es gibt Söldnerorganisationen in Pakistan, die man dafür bezahlen könnte. Das ist extrem teuer, die Kosten werden die wenigsten tragen können. Die Anzahl der Menschen, die einen Schleuser begleiten können, ist außerdem begrenzt. Bei mehreren Tausend ist das utopisch.

Sie betreuen mehrere geflohene Ortskräfte in Sachsen, deren Angehörige aufgrund ihrer Arbeit für Deutsche auf Todeslisten der Taliban stehen. Was ist jetzt mit den Familien?

Ich hatte den ganzen Tag lang mit meinem Afghanen in Glauchau zu tun. Sein Bruder mit Familie ist auf der Flucht, sendet ihm verzweifelte Nachrichten, fleht um Hilfe. Wer jetzt die Morde in den großen Städten überlebt, wird versuchen, sich per Taxi, Bus, zu Fuß zur Grenze durchzuschlagen. Von einem anderen Betroffenen [Über ihn ist in der vergangenen Woche ein Report auf sächsische.de erschienen, Anm. d. Red.] hat sich die Familie auf verschiedene Dörfer und Städte aufgeteilt. Seinen Bruder und seine Eltern werden die Taliban wahrscheinlich umbringen. Seine 16-jährige Schwester ist dafür zu wertvoll. Sie werden die Taliban zwangsverheiraten. Abdullah* ist komplett fertig. Ähnlich geht es im Prinzip allen Ortskräften hier.