„Wenn sie Glück hat, töten die Taliban sie schnell“
Hans-Jürgen Domani war als Soldat aus Sachsen in Afghanistan und betreut mehrere Ortskräfte. Seit die Taliban Kabul eroberten, fürchten diese um ihr Leben.
Herr Domani, zuletzt hat das Patennetzwerk der Bundeswehr zwei sichere Häuser in Kabul betrieben, um Ortskräfte zu schützen. Was passiert mit ihnen jetzt, wo die Taliban Kabul eingenommen haben?
Es gibt kein sicheres Haus mehr, weil es auch keinen sicheren Ort mehr gibt. Der Flughafen in Kabul ist gesperrt, der Luftraum auch. Militärkräfte fliegen nur noch ihr Personal aus: internationale Leute aus Kabul, die wichtig genug sind, und Soldaten, die den Rückzug decken. Heute hätte die Evakuierung beginnen sollen. Die 1.300 Ortskräfte, die sich auf den Aufruf des Patennetzwerks in den vergangenen zwei Wochen in Kabul eingefunden und auf Evakuierung gewartet haben, sind auf der Flucht. Zwei Bundeswehrmaschinen haben heute Kabul verlassen. Je nach Bestuhlung kriegen die je etwa 300 Leute rein.
Sie stehen mit mehreren Menschen, die im Auftrag der Bundesrepublik gearbeitet haben, in Kontakt. Wie geht es ihnen?
Die Taliban haben die Wohnadressen von regierungsnahem Personal. Sie rücken in Kabul vor, durchsuchen Straße für Straße die Häuser. Verdächtige werden entweder in Gefangenschaft genommen oder gleich erschossen. Ich hatte auch Kontakt zu einem von den Deutschen ausgebildeten Polizisten, der sich mit Frau und Kindern versteckt.
Bundeswehrreservist Hans-Jürgen Domani unterstützt Helfer der Bundeswehr in Afghanistan, die für ihre Arbeit bedroht werden und in Sachsen Zuflucht gefunden haben. 2010 war er selbst dort im Einsatz. Mehr über seine Arbeit lesen Sie hier.
Auf dem Weg zum Flughafen ist er umgekehrt, weil man nicht mehr sicher dorthin kommen konnte. Unsere Mitarbeiter verbrennen alle deutschen Dokumente, die sie bei sich haben, damit man ihnen nichts nachweisen kann.
Dabei hängt daran ihre Chance, ein Visum für Deutschland zu erhalten. Bisher haben sie die Papiere wie Schätze gehütet.
Sie verlieren die Hoffnung. Diejenigen, die heute Vormittag am Flughafen waren, fliehen jetzt panisch, um sich irgendwie zu retten. Auf dem Flughafen herrscht komplettes Chaos. Tausende, die wegwollen, haben Soldaten überrannt, versucht, sich in Flugzeuge zu retten. Deswegen haben US-Kräfte den Flugplatz gesperrt, bis man die Kontrolle zurückhat. Ob sich dann nochmal ein Fenster ergibt, in dem Flüge möglich sind, wird sich im Lauf der Woche herausstellen. Vielleicht wird man auch nur die eigenen Leute retten.
Sie kennen auch eine Journalistin in Kabul, die im Auftrag der Bundesregierung eine Radiosendung über Kinderkrankheiten und Frauenhygiene produziert hat. Sie hat kein Visum erhalten, obwohl sie auf der Todesliste der Taliban steht. Wie geht es ihr jetzt?
Ein anderer Journalist hatte ihr einen Sitz für einen Passagierflug gebucht. Aber sie konnte ihren Bereich nicht verlassen, weil es Kämpfe gab. Man konnte sich auf der Straße nicht mehr bewegen. Frauen und Kinder leben besonders gefährlich. Der Mann kann sich unter Talibanherrschaft relativ frei bewegen, arbeiten, Freundschaften pflegen. Frauen und Kinder haben keine Möglichkeit, sich frei zu bewegen, frei zu ernähren.
Neben dem allgemeinen Lebensrisiko sind sie auch noch sexuellem Missbrauch ausgesetzt. Wenn sie sich alleine draußen zeigen, haben sie nach Ansicht der Taliban das Recht auf eine Ehre verloren. Man darf sie ungestraft vergewaltigen. Wenn wir über humanitäre Hilfe sprechen, sollten wir möglichst Frauen oder Kinder holen.
Wenn sie Glück hat, töten die Taliban sie schnell, wenn sie sie finden. Sonst muss sie vielleicht zugucken, wie ihre Kinder im Vor- und Grundschulalter vor ihren Augen gefoltert oder getötet werden. Die Taliban kennen viele seelische und körperliche Grausamkeiten. Diese Kinder sind in relativem Frieden aufgewachsen. Für sie geht jetzt gerade eine Welt unter. Wer die Möglichkeit hat, gibt seine Kinder an Verwandtschaft, die man erreichen kann und die zuverlässig ist. Dann könnte man die Kinder nachholen, wenn man an einen sicheren Ort geflohen ist.
Wie kann die Flucht gelingen, jetzt, wo die Taliban beinahe das ganze Land kontrollieren?
Während der Belagerung um Städte wie Masar-e Scharif oder Kundus war es nicht möglich, aufs Land zu entkommen. Jetzt, wo es wieder Märkte und Handel gibt, wird es nach und nach möglich sein, sich durchs Land zu bewegen. Am ein oder anderen Checkpoint wird man sich durchlügen können, sofern man nicht mit Foto auf der Todesliste steht. Wer stark genug ist und das riskiert, wird es zu Fuß oder mit dem Schlauchboot möglicherweise in den Iran oder ein anderes Nachbarland schaffen.
Von dort könnte man die Geflohenen später ausfliegen. Wer seine Kinder nicht zu Verwandten bringen kann, hat es schwer. Ob eine Familie mit kleinen Kindern über Bergpässe fliehen kann, ist fraglich. Mit erheblichem Geldaufwand, der berühmten Bestechung, könnte man Leute im grenznahen Bereich abholen und über die Grenze bringen. Es gibt Söldnerorganisationen in Pakistan, die man dafür bezahlen könnte. Das ist extrem teuer, die Kosten werden die wenigsten tragen können. Die Anzahl der Menschen, die einen Schleuser begleiten können, ist außerdem begrenzt. Bei mehreren Tausend ist das utopisch.
Sie betreuen mehrere geflohene Ortskräfte in Sachsen, deren Angehörige aufgrund ihrer Arbeit für Deutsche auf Todeslisten der Taliban stehen. Was ist jetzt mit den Familien?
Ich hatte den ganzen Tag lang mit meinem Afghanen in Glauchau zu tun. Sein Bruder mit Familie ist auf der Flucht, sendet ihm verzweifelte Nachrichten, fleht um Hilfe. Wer jetzt die Morde in den großen Städten überlebt, wird versuchen, sich per Taxi, Bus, zu Fuß zur Grenze durchzuschlagen. Von einem anderen Betroffenen [Über ihn ist in der vergangenen Woche ein Report auf sächsische.de erschienen, Anm. d. Red.] hat sich die Familie auf verschiedene Dörfer und Städte aufgeteilt. Seinen Bruder und seine Eltern werden die Taliban wahrscheinlich umbringen. Seine 16-jährige Schwester ist dafür zu wertvoll. Sie werden die Taliban zwangsverheiraten. Abdullah* ist komplett fertig. Ähnlich geht es im Prinzip allen Ortskräften hier.
Einige Leute werfen Polizei und Militär Afghanistans vor, dass sie nicht motiviert genug gegen die Taliban gekämpft hätten. Sie haben diese Kräfte vor Ort erlebt. Warum konnten sie den Taliban nicht mehr entgegensetzen?
Zahlenmäßig sind afghanische Sicherheitskräfte den Taliban überlegen. Gerade geht man von etwa 75.000 Taliban aus, von denen die Kernverbände etwa 5.000 Kämpfer zählen, die wirklich gut sind. Den Rest verwenden die Taliban als Kanonenfutter. Zum Beginn des US-Abzugs haben Polizei und Militär Afghanistans zusammen 300.000 Leute gezählt. Zwei Drittel von ihnen hielten den Betrieb aufrecht. Auf der Straße waren etwa 100.000. Die Masse von ihnen schützte aber Personen oder große Städte, Flughäfen und Regierungsgebäude. Was dann noch übrig bleibt, um aktiv gegen die Taliban zu kämpfen, waren wenige tausend Leute. Es gab die Spezialeinheiten, die relativ gut ausgebildet waren. Sie waren in der afghanischen Armee am höchsten motiviert.
Warum war der Rest nicht motiviert, gegen die Taliban zu kämpfen?
Viele Polizisten und Soldaten hat man durch Drohbriefe zum Überlauf gezwungen. Einige haben sich freiwillig angeschlossen, weil der Sieg der Taliban wahrscheinlich ist. Afghanische Polizisten und Soldaten hätten siegen können, wenn sie wirklich gekämpft hätten. Aber ihnen fehlt der Staat, für den es sich zu kämpfen lohnt. Die Regierung ist korrupt und unfähig, für viele Bürger sind die Taliban immer noch zuverlässiger als die eigene Regierung. Die Deutschen sind eher obrigkeitshörig erzogen. Das führt dazu, dass Soldaten in der Vergangenheit bis zum letzten Tag gekämpft haben, auch wenn es schon völlig aussichtslos war.
In Afghanistan gibt es seit einem halben Jahrhundert keinen funktionierenden Staat mehr.
Und kein funktionierendes Sozialsystem. Das einzige, was man hat, ist die Familie und im weiteren Sinne den Clan. Man handelt immer so, dass es der eigenen Familie und dem eigenen Clan nutzt. Auch im Sinne der Familienehre, die für uns unsinnig erscheint. Aber alles Abstrakte darüber hinaus - die Partei, die ethnische Gruppe, der Staat Afghanistan - führt zu keiner Motivation. Außerhalb der Familie ist man nur damit zu motivieren, dass man Geld verdienen kann. Wenn man sein Leben riskiert und dafür nicht genug verdient, ist man weg. Ein Sprichwort sagt: Man kann einen Afghanen nicht kaufen, nur mieten. Für seine Familie würde er sein Leben geben, aber nicht für ein abstraktes Gebilde darüber hinaus.
Gab es auch Defizite bei der Ausbildung, die afghanische Kräfte durch internationale Truppen erfahren haben?
Die Ausbildung dauerte für die meisten nur wenige Wochen. Danach hat man den Leuten eine Kalaschnikow in die Hand gedrückt und einen Bruchteil dessen gezahlt, was die Taliban zahlen - und davon mussten sie die Hälfte dann nochmal bei ihren Vorgesetzten abgeben. Im größten Ausbildungscamp in Masar-e Scharif gab es funkelnagelneue Fahrzeuge, die so lange gefahren wurden, bis sie kaputt waren. Dann standen sie in der Ecke, weil die Kompetenz fehlte, sie zu reparieren. Die Monteure sind zwar in der Lage, einen alten Russen-LKW mit Hammer und Meißel zu reparieren, weil die Technik primitiv ist, aber mit moderner Technik kommen sie nicht klar. Wir haben es in 20 Jahren nicht geschafft, Leute so auszubilden, dass sie was können.
Sie gehören unter den Reservisten zu den besonders lauten Kritikern der Bundesregierung. Heute hat die Kanzlerin verkündet, 10.000 Menschen retten zu wollen. Glauben Sie daran?
Man wird massiv verschaukelt. Merkel fordert etwas, das momentan gar nicht möglich ist. Hinterher kann man behaupten, dass man ja guten Willen gezeigt hat. Als mitdenkender Reservist kann ich nicht verstehen, wie das System so grandios versagen kann in einem Staat, in dem wir alle Mittel haben, um den Menschen rechtzeitig zu helfen. Es wäre eine Kleinigkeit für Deutschland, 10.000 Menschen in Sicherheit zu bringen.
Die Kanzlerin mit ihrer Richtlinienkompetenz könnte den Innenminister anweisen, sitzt aber schweigend im Hintergrund und hat nichts als Lippenbekenntnisse zu bieten. Das Problem wird auf dem Rücken von 10.000 Menschen ausgesessen. Aus der Bundesregierung hieß es mal, dass wir bereit sind, 200.000 Flüchtlinge im Jahr aufzunehmen. Die Zahl haben wir seit Jahren nicht erreicht. Wir hätten locker 10.000 mehr aufnehmen können. Das Innenministerium ist der größte Bremsklotz. Dabei sind alle Ortskräfte bekannt, haben Papiere und sind von unseren Behörden sicherheitsüberprüft worden.
Was kann man jetzt noch für die Menschen tun, die verzweifelt genug sind, sich von außen an startende Flugzeuge zu hängen?
Momentan wenig. Es hängt davon ab, ob humanitäre Hilfe vor Ort noch möglich ist, sich Helfer um Waisen, Kranke und Witwen kümmern können. Wir können froh sein, dass es solche Menschen gibt. Die können zumindest das größte Leid lindern. Die Ressourcen des Landes genügen nicht, um alle Menschen zu ernähren.
Sie sind einer von rund 200 Paten, deren Netzwerk versucht, den Ortskräften bei der Ausreise zu helfen. Was tun Sie jetzt?
Wir versuchen, die Überlebenden über verdeckte Kanäle mit Geld zu versorgen und informieren sie, wohin sie jetzt gehen können oder, ob es Schleuser gibt, die ihnen helfen können. Dazu sammeln wir Informationen aus allen Himmelsrichtungen, können Adressen zu zuverlässigen Kontakten geben. Aber das ist es dann auch schon. Ob der Luftraum nochmal für zivile Flüge geöffnet wird, ist unklar. Möglicherweise werden die Amerikaner mit ähnlich hässlichen Bildern wie bei der Flucht aus Saigon das Land verlassen. Das wollte man unbedingt vermeiden. Der Deal mit den Taliban war: Ihr lasst uns in Frieden abziehen und wir überlassen euch das Land. Das ganze Gequatsche von Friedensverhandlungen in Doha war ein Feigenblatt, um eleganter das Land zu verlassen.
Dass die Taliban auch Kabul einnehmen würden, haben alle erwartet. Aber nicht, dass es so schnell geht. Wie gehen die Paten damit um?
Unsere Leute sind völlig fertig. Sie haben wochenlang Nachtschichten gemacht, sichere Häuser organisiert, Geld gesammelt. Über das Wochenende ist alles zusammen gebrochen, sie sind nervlich völlig am Ende. Sich von dem Schock zu erholen, wird dauern. Manche werfen sich vor, dass sie die 1.300 Leute für die Evakuierung nach Kabul gelotst haben, wo wir sie mit Lebensmitteln, Bargeld und sicheren Häusern unterstützt haben, damit sie von dort abfliegen können. Jetzt hat der Westen Kontrolle verloren und sie auf die Schlachtbank geführt. Rational gesehen ist es falsch, dass wir uns Vorwürfe machen. Jeder einzelne Pate hat mehr für die Ortskräfte geleistet als die ganze Bundesregierung zusammen.
Sie waren zehn Jahre aktiver Bundeswehrsoldat, danach haben Sie fünf Auslandseinsätze mitgemacht. Dabei mussten Sie immer wieder beobachten, dass die Bundeswehr ohne das US-Militär kaum handlungsfähig ist. Welche Schlussfolgerungen sollten daraus folgen?
Die Militärausgaben Europas und seine lächerliche militärische Schlagkraft stehen in keinem Verhältnis. Wir haben 27 Verteidigungsministerien mit eigenen Luftwaffen. Am sinnvollsten wäre eine komplett europäische Armee, gerade mit Blick auf die riesigen Streitkräfte Chinas und Russlands. National nur noch Reservisten, die man auch für zivile Zwecke wie Borkenkäferbekämpfung oder Fluthilfe einsetzt, keine Streitkräfte. Wäre man politisch einig, könnte Europa eine ernstzunehmende Militärmacht in der Welt sein, die Einsätze wie in Afghanistan locker allein stemmen könnte. Aber das wird nicht kommen.
Die Europäer sind uneinig und inkompetent. Die Hälfte würde sich weigern, ihr Militär unter eine europäische Armee zu stellen. Ganz vornedran Deutschland. Man hätte Bedenken, Zehntausende Soldaten auf Beschluss Brüssels loszuschicken. Andere würden befürchten, dass Europa lange quatscht, aber nichts entscheidet. Wie im Jugoslawienkrieg. Europa hat daneben gestanden und versucht, Slobodan Milosevic an der Macht zu halten. Die Bundeswehr kann nichts dafür, auch heute nicht. Sie hat alle Daten erfasst und gemeldet, die Menschen sind unsere Helfer und Kameraden und werden nun im Stich gelassen.
*Name aus Sicherheitsgründen von der Redaktion geändert